Die Liebenden von Leningrad
unter ihr. Sie fuhr wieder mit der Zunge über das scharfe Metallstück in ihrem Mund. Sayers fühlte sich kalt an. Bestimmt hatte er viel Blut verloren, Tatiana öffnete die Augen und tastete ihn ab. Hinter dem Jeep brannte es. Sie sah in das blasse Gesicht des Arztes. Wo war er getroffen worden? Sie fasste unter seinen Mantel und fand das Einschussloch an seiner Schulter. Ausgetreten war die Kugel offenbar nicht, also drückte sie ihre behandschuhte Hand auf die Stelle, um die Blutung zu stillen. Mittlerweile fielen keine Schüsse mehr.
Sie spürte, wie sie wieder in den schwarzen Abgrund sank. Wie lange würde es dauern, bis sie starb?
Wie durch einen Nebel hörte sie Dr. Sayers stöhnen. »Doktor?« Er schien halb bei Bewusstsein zu sein. Im Wald war es still. Tatiana kroch unter dem Jeep hervor. Ihre Finger waren voller Blut. Sie rieb sich durchs Gesicht. Sie hatte einen großen Glassplitter in der Wange, und als sie versuchte, ihn herauszuziehen, tat es entsetzlich weh. Dennoch fasste sie ihn mit beiden Händen und riss ihn heraus. Es konnte gar nicht weh genug tun.
Vor Schmerz schreiend, sank sie in die Knie. Blut tropfte aus ihrem Gesicht auf den Schnee. Ihre Zunge tat furchtbar weh und war geschwollen. Tatiana kühlte die Wunde mit Schnee, setzte sich dann auf und blickte sich um. Es war unheimlich still. Ein paar Meter von ihr entfernt lag der tote NKWD -Mann in seiner dunkelblauen Uniform. Dimitri war bis auf einen Meter an den Jeep herangekrochen. Noch im Tod standen seine Augen weit offen, und er hatte die Hand nach Tatiana ausgestreckt. Einen Moment lang betrachtete Tatiana Dimitris erstarrtes Gesicht. Alexander hätte es bestimmt mit Genugtuung vernommen, dass Dimitri vom NKWD erkannt worden war. Dann blickte sie weg.
Alexander hatte Recht gehabt. Dies war eine gute Stelle, um die Grenze zu überqueren. Es gab hier nur wenig Männer, und die NKWD-Truppen waren nur leicht bewaffnet. Auch auf der finnischen Seite der Grenze war es ruhig. Waren die Finnen auch alle tot? Tatiana spähte durch die Bäume. Nichts bewegte sich. Was sollte sie tun? Sie musste rasch hier weg. Entschlossen kroch sie wieder unter den Jeep. »Dr. Sayers«, flüsterte sie. »Matthew, können Sie mich hören?« Er antwortete nicht. Er war in schlechter Verfassung, sein Puls ging nur noch ganz flach. Tatiana zog seinen amerikanischen Pass aus seiner Manteltasche und auch die beiden Reisegenehmigungen, auf denen vermerkt war, dass sich Matthew Sayers und Jane Barrington auf dem Weg nach Helsinki befanden. Sie kroch wieder unter dem Jeep hervor, setzte sich auf den Fahrersitz und drehte den Zündschlüssel um. Nichts. Es war hoffnungslos. Abermals spähte sie durch den Wald auf die finnische Seite. Dort lagen Leichen im Schnee, und dahinter stand ein finnischer Armeelaster, etwas größer als der Rotkreuzjeep. Er sah unversehrt aus.
Tatiana sprang aus dem Fahrerhaus und sagte zu Dr. Sayers: »Ich bin gleich wieder da.« Er antwortete nicht.
Sie lief über die sowjetisch-finnische Grenze. In dem Laster saß noch ein Soldat, er war tot über dem Steuer zusammengesunken. Tatiana zerrte ihn heraus. Dann startete sie den Wagen und fuhr zu Sayers. Es kostete sie fast übermenschliche Anstrengung, ihn auf die Ladefläche zu hieven. Als sie es schließlich geschafft hatte, fiel ihr Blick auf die Rotkreuzfahne des Jeeps.
Sie hatte keine Ahnung, wie sie das Abzeichen an der Plane des finnischen Lasters befestigen sollte, doch plötzlich fiel ihr der Verbandskasten ein. Rasch holte sie ihn und die Flasche mit dem Plasmavorrat heraus. Sie zog Dr. Sayers den Mantel von der Schulter; legte eine Kanüle in die Vene und schloss die Flasche an. Während das Plasma durchlief, säuberte Tatiana die Wunde und verband sie. Der Arzt hatte offensichtlich Fieber und lag im Delirium. Tatiana drückte sich mit Jod getränkten Verbandsmull auf die Wange. Es brannte wie Feuer.
Anschließend nahm sie Nadel und Faden aus dem Verbandskasten und nähte mühsam das große Rotkreuzsymbol auf die braune Plane des finnischen Lasters. Der dünne Faden riss an mehreren Stellen, aber bis Helsinki würde es halten. Als sie fertig war, setzte sie sich hinters Steuer, drehte sich noch einmal zu Dr. Sayers um und fuhr los. Dimitri ließ sie einfach liegen.
Vorsichtig und unsicher lenkte Tatiana den Wagen über den sumpfigen Waldweg. Ihre Füße reichten kaum bis an die Pedale, und sie umklammerte mit beiden Händen das große Lenkrad. Der Weg war einfach zu finden
Weitere Kostenlose Bücher