Die Liebenden von Leningrad
in die Knie gezwungen, aber er steht immer noch. Wie kann das sein?
Auf dem Weg nach Lisiy Nos mussten sie ein halbes Dutzend Kontrollstellen passieren. Sayers zeigte den Wachleuten seine Papiere und die seiner Krankenschwester, ausgestellt auf Jane Barrington. Dimitri hatte keine Papiere, nur eine Erkennungsmarke mit dem Namen des toten Piloten. Sayers erklärte, sie brächten ihn im Gefangenenaustausch nach Helsinki. Sechsmal öffnete ein Wachtposten die Plane, leuchtete Dimitri mit der Taschenlampe ins Gesicht und winkte dann den Wagen durch. »Nicht schlecht, von der Rotkreuzfahne geschützt zu werden«, murmelte Sayers. Tatiana nickte.
Der Arzt fuhr an den Straßenrand und schaltete den Motor ab. »Ist Ihnen kalt?«, fragte er. »Nein. Soll ich fahren?« »Können Sie denn fahren?«
In dem Sommer, bevor sie Alexander kennen lernte, hatte sich Tatiana in Luga mit einem Soldaten angefreundet. Er ließ sie und Pascha den ganzen Sommer über in seinem Jeep herumfahren.
»Ja, ich kann fahren.«
»Dennoch - wir lassen es lieber. Es ist zu dunkel und zu glatt.« Sayers schloss für eine Stunde die Augen. Tatiana saß still neben ihm. Sie versuchte sich zu erinnern, wann sie und Alexander sich das letzte Mal geliebt hatten. Es war an einem Sonntag im November gewesen, aber wo genau? Es fiel ihr nicht mehr ein. Was hatten sie gemacht? Hatte Inga an der Tür gelauscht? Waren sie im Badezimmer, auf dem Sofa, auf dem Fußboden gewesen? Sie konnte sich einfach nicht mehr erinnern.
Was hatte Alexander gestern Abend zu ihr gesagt? Er hatte sie geküsst, lächelnd ihre Hand berührt und ihr erzählt, er würde nach Wolkow gebracht und befördert werden. Hatte man ihn angelogen? Hatte er sie angelogen?
Er hatte gezittert, und sie hatte angenommen, ihm sei kalt. Tatiana weckte Dr. Sayers, und sie fuhren weiter. Um sechs Uhr morgens erreichten sie die Grenze zwischen der Sowjetunion und Finnland.
Alexander hatte Tatiana erklärt, es sei eigentlich keine Grenze, sondern eine Verteidigungslinie mit einem dreißig bis sechzig Meter breiten Streifen zwischen den sowjetischen und finnischen Truppen.
Alles war still, und Dr. Sayers äußerte die Hoffnung, dass sie einfach durchfahren konnten und ihre Papiere erst den finnischen Wachtposten zeigen mussten.
Doch plötzlich schrie ihnen jemand zu, sie sollten anhalten. Drei verschlafene NKWD-Grenzsoldaten traten an den Wagen. Sayers zeigte ihnen die Papiere.
Der NKWD-Posten studierte sie aufmerksam und sagte dann mit einem deutlichen Akzent auf Englisch zu Tatiana: »Kalter Wind, nicht wahr?«
Tatiana erwiderte akzentfrei: »Bitterkalt. Es soll heute noch schneien.«
Der Soldat nickte, und die drei Männer gingen nach hinten, um sich Dimitri anzusehen.
Eine Taschenlampe leuchtete auf. »Warte«, hörte Tatiana einen der Männer sagen, »lass mich sein Gesicht noch einmal ansehen.«
Wieder leuchtete die Taschenlampe auf.
Einer der Soldaten lachte und sagte etwas auf Finnisch zu Dimitri. Tatiana sprach nicht finnisch, aber offensichtlich hatte auch Dimitri nicht verstanden, was der Soldat gesagt hatte, denn er antwortete nicht.
Der sowjetische Offizier wiederholte seine Frage. Dimitri schwieg. Dann murmelte er etwas, was in Tatianas Ohren ebenfalls wie Finnisch klang. Die Männer erwiderten zuerst nichts, dann sagte einer von ihnen auf Russisch: »Steig aus.« »Oh nein«, flüsterte Dr. Sayers. »Pst«, machte Tatiana.
Der Soldat wiederholte seinen Befehl, aber Dimitri rührte sich nicht. Dr. Sayers drehte sich um und sagte auf Russisch; »Er ist verwundet. Er kann nicht aufstehen.«
»Wenn er weiterleben will, sollte er besser aufstehen«, sagte der Russe. »Sagen Sie das Ihrem Patienten - in was für einer Sprache auch immer.«
»Doktor«, flüsterte Tatiana, »wenn er sich selbst nicht retten kann, wird er versuchen, uns auch mit ins Verderben zu reißen.« Die drei NKWD-Soldaten zerrten Dimitri aus dem Jeep und befahlen auch Sayers und Tatiana, auszusteigen. Der Arzt lief um das Auto herum und stellte sich neben Tatiana. Sie hielt sich an seinem Mantel fest, weil ihre Knie schon wieder nachgaben. Dimitri stand ein paar Meter von ihnen entfernt. Man sah deutlich, dass ihm die Uniform viel zu groß war. Lachend richteten die drei Soldaten ihre Gewehre auf ihn und einer sagte: »So, Finne, wir haben dich gefragt, wer dein Gesicht so zugerichtet hat, und du hast uns geantwortet, du fährst nach Helsinki. Kannst du uns das erklären?« Dimitri schwieg und blickte flehend
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