Die Liebenden von Leningrad
Zimmer. Im Flur nahm sie Tatiana in den Arm und sagte auf Englisch: »Liebes, viele Menschen sterben, auch wenn man sein Bestes für sie gibt. Wir befinden uns im Krieg. Du kannst nicht jeden retten.«
Sam Leavitt trat auf sie zu und fragte, was sie jetzt vorhabe. Tatiana erwiderte, sie wolle nach Amerika zurückkehren. Leavitt starrte sie an und wiederholte verwundert: »Zurück nach Amerika?« Leiser fügte er hinzu: »Hören Sie, ich weiß nicht, wo Matthew sie kennen gelernt hat. Ihr Englisch ist ziemlich gut, aber so gut ist es nun auch wieder nicht. Sind Sie wirklich Amerikanerin?«
Tatiana wurde blass. Sie nickte.
»Wo ist Ihr Pass? Ohne Pass können Sie nicht zurück.«
Schweigend blickte sie ihn an.
»Außerdem ist es im Moment zu gefährlich. Die Deutschen bombardieren die Ostsee gnadenlos. Viele Schiffe sinken. Warum bleiben Sie nicht bis April hier und arbeiten bei uns, bis das Eis geschmolzen ist? Gleichzeitig kann Ihre Wunde in Ruhe heilen. Wir könnten noch eine Schwester gebrauchen. Bleiben Sie in Helsinki.« Tatiana schüttelte den Kopf.
»Sie müssen sowieso hier bleiben, bis wir Ihnen einen neuen Pass besorgt haben. Ich bringe Sie später zum amerikanischen Konsulat, aber es wird mindestens einen Monat dauern, bis man Ihnen einen neuen Pass ausgestellt hat. Bis dahin ist der Winter vorbei. Zurzeit ist es sehr schwer, nach Amerika zu kommen.«
Tatiana wusste, dass die amerikanischen Behörden schnell herausfinden würden, dass sie nicht Jane Barrington war. Alexander hatte gesagt, sie dürften auf keinen Fall länger in Helsinki bleiben, sondern müssten sofort nach Stockholm weiterreisen. Der NKWD hatte einen langen Arm. Ängstlich schüttelte sie den Kopf und wich vor dem Arzt zurück. Mit ihrem Rucksack, ihrer Schwesterntasche und den Reisepapieren verließ sie das Krankenhaus. Am Südhafen setzte sie sich auf eine Bank und sah zu, wie die Markthändler ihre Stände abbauten und den Platz säuberten. Da überkam sie plötzlich eine große Ruhe. Stundenlang saß sie auf der Bank, bis es dunkel wurde. Dann spazierte sie so lange durch den Hafen, bis sie Lastwagen mit der blau-gelben schwedischen Fahne entdeckte, die Bauholz luden. Tatiana wusste, dass Fracht hauptsächlich nachts über die Ostsee gebracht wurde, weil die Schiffe oder Laster dann nicht so leicht auszumachen waren wie tagsüber. Die Deutschen bombardierten zwar normalerweise neutrale Handelsschiffe nicht, aber manchmal passierte es eben doch. Deshalb fuhren jetzt die meisten schwedischen Frachter und Lastwagen nur noch mit Geleitschutz. Das hatte Alexander ihr erzählt. Sie hörte, wie einer der Männer, die das Holz aufluden, Stok-golm sagte, und nahm an, dass die Wagen nach Stockholm fuhren, weil es so ähnlich klang. Kurz entschlossen trat sie zu einem der Fahrer, zeigte ihm ihren Rotkreuzausweis und erklärte auf Englisch, sie sei Krankenschwester und müsse dringend nach Stockholm. Ob er sie wohl für hundert amerikanische Dollar über den Bottnischen Meerbusen bringen könne. »Stokgolm?«, wiederholte sie und hielt ihm einen Hundertdollarschein hin. Zufrieden nahm er das Geld entgegen und ließ sie mitfahren.
Er sprach weder Englisch noch Russisch, so dass sie kaum miteinander redeten, was Tatiana erleichtert hinnahm. Sie hing ihren Gedanken nach, dachte daran, wie sie Alexander zum ersten Mal geküsst hatte, damals in den Wäldern von Luga, und darüber schlief sie ein.
Sie fuhren die ganze Nacht hindurch, doch schließlich kamen sie in Stockholm an. Der Fahrer lenkte seinen Wagen zum Hafen. »Tack«, sagte Tatiana zu ihm, »tack sa mycket.« Alexander hatte ihr beigebracht, wie man sich auf Schwedisch bedankte. Vorsichtig stieg Tatiana die Granittreppe bis zur gepflasterten Hafenpromenade hinauf. Ich bin in Schweden, dachte sie ungläubig. Langsam wanderte sie durch die leeren Straßen. Es war noch früh am Morgen, und die Geschäfte hatten noch nicht geöffnet. Was für ein Tag war heute? Tatiana wusste es nicht. In der Nähe des Industriehafens fand sie eine kleine Bäckerei, die bereits geöffnet hatte. Auf den Regalen lag Weißbrot. Sie zeigte der Verkäuferin ihr amerikanisches Geld, aber die schüttelte den Kopf und erwiderte etwas auf Schwedisch. »Bank«, verstand Tatiana, und »Pengar, Dollars«. Tatiana wandte sich zum Gehen. Die Frau rief noch etwas hinter ihr her, aber Tatiana drehte sich nicht mehr um. Sie war schon wieder auf der Straße, als die Frau sie eingeholt hatte und ihr ein warmes, duftendes
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