Die Liebenden von Leningrad
auf die sowjetische Regierung machen? Sie haben mit ihrem Heimatland gebrochen, haben das Land bespuckt, das für Sie und Ihre Familie gesorgt hat. In Amerika ist es Ihnen sehr gut gegangen, sehr gut - bis Sie beschlossen haben, Ihr Leben zu ändern. Sie sind hierher gekommen.
Wir haben Sie wohlwollend empfangen. Doch wir waren davon überzeugt, dass Sie alle Spione waren. Wir beobachteten Sie, weil wir vorsichtig sind. Wir wollten, dass Sie auf eigenen Füßen stehen. Wir versprachen, uns um Sie zu kümmern, aber wir brauchten Ihre unerschütterliche Loyalität. Nichts weniger erwartet - nein, fordert - Genosse Stalin.« Er machte eine kurze Pause.
»Doch dann gingen Sie zur Botschaft, weil Sie Ihre Meinung über uns geändert haben, so wie Sie Ihre Meinung über Amerika geändert haben. Dort sagte man zu Ihnen: Tut uns Leid, aber wir kennen Sie nicht. Nun, wir sagen: Tut uns Leid, aber wir wollen Sie nicht ... Was können Sie also noch tun? Wohin sollen Sie gehen? Die Amerikaner wollen Sie nicht, wir wollen Sie nicht. Sie haben uns gezeigt, dass man Ihnen nicht vertrauen kann. Was bleibt da noch?«
»Der Tod«, erwiderte Jane. »Aber ich bitte Sie, verschonen Sie meinen einzigen Sohn.« Sie senkte den Kopf. »Er war noch ein kleiner Junge, als wir hierher kamen. Er hat seine amerikanische Staatsbürgerschaft nicht aufgegeben.« »Er hat sie aufgegeben, als er in die Rote Armee eintrat und sowjetischer Bürger wurde«, entgegnete Slonko. »Aber das State Department führt keine Akte über irgendwelche subversive Tätigkeiten meines Sohnes. Er war in Amerika nie bei den Kommunisten. Ich bitte Sie ...« »Ach was, Genossin, er ist der Gefährlichste von Ihnen allen«, sagte Slonko.
Jane sah ihren Mann noch ein einziges Mal vor der Gerichtsverhandlung, der Slonko vorsaß. Nach einem Schnellverfahren wurde sie mit dem Gesicht zur Wand von einem Exekutionskommando erschossen.
Bis zu seiner Verhaftung hielten sich Harolds Sorge um seinen Sohn und die Verzweiflung über seine enttäuschten Träume die Waage.
Er war schon früher mehrmals im Gefängnis gewesen, die Haft machte ihm nichts aus. Für ihn war es eine Auszeichnung, für seine Überzeugung im Gefängnis zu sitzen, und in Amerika war er stolz darauf gewesen. »Ich habe in den besten Gefängnissen in Massachusetts gesessen«, pflegte Harold immer zu sagen. »In Neuengland gibt es niemanden sonst, der für seine Überzeugungen so viel gelitten hat.«
Die Sowjetunion hatte sich leider nur als ein Land der Suppenküchen herausgestellt. Der Kommunismus funktionierte in Russland nicht so, wie Harold es erwartet hatte. In Amerika würde er besser funktionieren, dachte er. Das war das richtige Land für kommunistische Ideen. Harold wäre gern wieder zu Hause gewesen. Zu Hause.
Die Sowjetunion war nicht seine Heimat und die sowjetischen Kommunisten wussten das. Sie waren es leid, ihn zu beschützen, auch wenn er sich das nur widerstrebend eingestand. Und jetzt war er sogar ein Volksfeind. Er hatte sie verstanden. Harold verachtete Amerika wegen seiner Oberflächlichkeit und falschen Moral. Er war der Meinung, dass nur Idioten an die demokratische Idee glauben konnten. Aber jetzt, da er in einer sowjetischen Gefängniszelle saß, wollte Harold zumindest seinen Jungen nach Amerika zurückschicken. Um jeden Preis! Was habe ich meinem Sohn angetan?, dachte Harold. Was habe ich ihm hinterlassen? Harold wusste plötzlich nicht mehr; was Kommunismus überhaupt bedeutete. Er sah nur Alexanders bewunderndes Gesicht vor sich, als er, Harold, an einem Samstagnachmittag an einem Rednerpult in Greenwich, Connecticut, gestanden und wüste Beschimpfungen von sich gegeben hatte.
Wer ist eigentlich dieser Junge, den ich Alexander nenne? Und wenn ich es schon nicht weiß, woher soll er es dann wissen? Ich habe meinen Weg gefunden, aber wie wird er seinen finden - in einem Land, das ihn nicht akzeptiert?
Während der endlosen Verhöre, den Leugnungen, flehenden Bitten und der Verwirrung war Harold nur von einem Gedanken beseelt: Er wollte Alexander noch einmal sehen, bevor er starb. Deshalb appellierte er an Slonkos Menschlichkeit. »Lassen Sie meine Menschlichkeit aus dem Spiel«, erwiderte Slonko. »So etwas besitze ich gar nicht. Außerdem hat Menschlichkeit nichts mit Kommunismus zu tun. Wenn man eine höhere, gesellschaftliche Ordnung erschaffen will, Genosse, braucht man Disziplin, Durchhaltevermögen und eine gewisse Distanz.«
»Aber Ihr Verhalten hat nichts mit Distanz zu
Weitere Kostenlose Bücher