Die Liebenden von Leningrad
hier passiert sind.«
Tatiana drückte ihm die Finger in die Schulter und sagte: »Wir hatten kaum eigene Erfahrung damit.« Sie wollte nicht gern darüber reden, weil ihr dieses Kapitel der russischen Geschichte Angst machte. »Ich habe einmal gehört, dass jemand bei Papas Arbeitsstelle verhaftet worden ist. Und ein Mann und seine Tochter aus unserer Wohnung sind vor ein paar Jahren verschwunden, und stattdessen sind die Sarkows gekommen.« Sorgfältig wählte sie ihre Worte. Ihr Vater war fest davon überzeugt, dass die Sarkows Informanten des NKWD waren. »In gewisser Weise haben sie mich abgeschirmt, ja.« »Nun, mich hat niemand abgeschirmt«, erwiderte Alexander. Er zog eine Zigarette und ein Feuerzeug aus der Tasche. »Überhaupt nicht. Und deshalb muss ich ständig an meine Eltern denken, die mit so vielen Hoffnungen hierher gekommen sind und so durchdrungen waren von ihrem Glauben an eine bessere Welt.« Er zündete die Zigarette an. »Hast du etwas dagegen, wenn ich rauche?«
»Überhaupt nicht«, entgegnete Tatiana und blickte ihn versonnen an. Sie liebte sein Gesicht. »Warum sind sie denn hierher gezogen?«, fragte sie.
Eine Weile lang rauchte Alexander schweigend. Dann sagte er langsam: »In den zwanziger Jahren - dem roten Jahrzehnt -galt der Kommunismus bei den Reichen in Amerika als schick.«
Alexanders Vater, Harold Barrington, wollte, dass Alexander, als er zehn wurde, der kommunistischen Jugendbewegung beitrat. Die Gruppe sei winzig, hatte Harold gesagt, und sie brauchte Verstärkung, Alexander weigerte sich. Schließlich sei er doch schon bei den Pfadfindern, erwiderte er seinem Vater. Barrington war eine Kleinstadt im östlichen Massachusetts, die nach den Barringtons benannt worden war. Sie lebten dort seit den Zeiten Benjamin Franklins. Ein Vorfahr von Alexander hatte im Revolutionskrieg gekämpft. Im neunzehnten Jahrhundert stellten die Barringtons vier Bürgermeister, und drei von Alexanders Vorfahren waren im Bürgerkrieg gestorben. Alexanders Vater wollte seinen eigenen Weg gehen. Alexanders Mutter, Gianna, war um die Jahrhundertwende mit achtzehn Jahren aus Italien eingewandert. Sie änderte ihren Namen in Jane, heiratete Harold Barrington und wurde aus vollem Herzen Amerikanerin. Auch sie hatte in Italien ihre Familie verlassen, um ihren eigenen Weg zu gehen.
Zuerst waren Jane und Harold Mitglieder einer radikalen Gruppierung, danach schlössen sie sich den sozialistischen Demokraten an. Schließlich wurden sie Kommunisten. Sie lebten in einem Land, in dem ihnen das alles gestattet wurde. Als moderne, fortschrittliche Frau wollte Jane Barrington keine Kinder haben, und Margaret Sanger, die Begründerin der Geburtenkontrollbewegung, unterstützte sie dabei. Elf Jahre später beschloss Jane, doch noch Kinder zu bekommen. Sie hatte mehrere Fehlgeburten, aber dann kam Alexander zur Welt. Er wurde 1919 geboren, als Jane fünfunddreißig und Harold siebenunddreißig war.
Alexander sog die kommunistische Lehre sozusagen mit der Muttermilch ein. In seinem komfortablen amerikanischen Heim mit dem offenen Kamin und ausreichend warmer Kleidung sprach Alexander Wörter wie Proletariat, Gleichheit, Manifest, Leninismus, bevor er überhaupt wusste, was sie bedeuteten.
Als er elf war, entschieden sich seine Eltern dafür, ihre Überzeugung aktiv zu leben. Harold Barrington wurde ständig verhaftet, weil er gewalttätige Demonstrationen auf den Straßen von Boston anzettelte, und schließlich ging er zur American Civil Liberties Union und bat dort um Hilfe. Er wollte in der UdSSR um Asyl nachsuchen. Dafür war er sogar bereit, auf seine amerikanische Staatsbürgerschaft zu verzichten. In der Sowjetunion konnte er eins sein mit dem Volk, das keine sozialen Klassenunterschiede kannte. Keine Arbeitslosigkeit. Und keine Vorurteile.
Harold und Jane Barrington gaben ihre Pässe ab, und als sie in Moskau ankamen, wurden sie wie königliche Hoheiten gefeiert und bewirtet. Nur Alexander schienen der unangenehme Geruch in den Badezimmern, die Unsauberkeit und die zerlumpten Bettler aufzufallen, die sich vor den Fenstern ihres Restaurants versammelten und auf die Küchenabfälle warteten. Das betrunkene Gegröle in den Bierlokalen, in die Harold Barrington Alexander mitnahm, war so deprimierend, dass Alexander ihn schließlich nicht mehr begleitete, obwohl er eigentlich gern mit seinem Vater zusammen war.
In der Pension, in der sie wohnten, wurden sie bevorzugt behandelt, zusammen mit anderen
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