Die Liebenden von Leningrad
Kirill kann es gar nicht erwarten, siebzehn zu werden. Er sagt, wenn er siebzehn ist, nehmen sie ihn bei der Armee.« »Stimmt, die Armee nimmt ihn, wenn er siebzehn ist«, bestätigte Tatiana und stand auf.
»Und wer nimmt dich, wenn du siebzehn bist?« Anton grinste. »Wahrscheinlich niemand«, erwiderte sie. »Wir sehen uns morgen, Anton. Sag deiner Mutter, ich habe etwas Schokolade für sie, wenn sie will. Sag ihr, sie soll morgen Abend vorbeikommen.«
Tatiana ging nach unten. Ihre Großeltern saßen lesend auf dem Sofa. Die kleine Lampe war an. Tatiana kuschelte sich Schutz suchend zwischen die beiden.
»Was ist los, Liebes?«, fragte ihr Großvater. »Du musst keine Angst haben.«
»Deda, ich habe keine Angst«, erwiderte Tatiana. »Ich bin nur sehr, sehr verwirrt.« Und ich kann mit niemandem darüber reden, dachte sie. »Wegen des Krieges?«
Tatiana überlegte, ob sie es ihnen erzählen sollte. Aber das ging natürlich nicht. Stattdessen fragte sie: »Deda, du hast doch immer gesagt, dass noch so viel vor mir liegt und dass ich geduldig sein soll. Denkst du das immer noch?« Ihr Großvater antwortete nicht sofort, und deshalb drängte sie: »Sag schon, Deda!«
»Ach, Tania«, erwiderte er und legte den Arm um sie, während ihre Großmutter ihr das Knie tätschelte. »Alles hat sich auf einmal grundlegend verändert.« »So sieht es aus«, sagte Tatiana. »Vielleicht solltest du lieber weniger geduldig sein.« Sie nickte. »Ich glaube, Geduld wird als Tugend sowieso überschätzt. «
»Deswegen darfst du allerdings nicht weniger moralisch sein«, sagte Deda. »Und auch nicht weniger rechtschaffen. Denk an die drei Fragen, die du dir selbst stellen musst, damit du weißt, wer du bist.«
Ihr wäre es lieber gewesen, Deda hätte sie nicht daran erinnert. Heute Abend hatte sie keine Lust, sich diese drei Fragen zu stellen. »Deda, in dieser Familie nimmst du die ganze Rechtschaffenheit für dich in Anspruch«, sagte Tatiana. »Für uns andere bleibt da nichts übrig.«
Ihr Großvater schüttelte den grauen Kopf. »Tania, es ist das Einzige, was überhaupt noch bleibt.«
Später lag Tatiana still in ihrem Bett und dachte an Alexander. Er hatte ihr von seinem Leben erzählt. Sie hatte ihm atemlos zugehört und das Gefühl gehabt, er teile seinen Kummer mit ihr. Er brauchte jemanden, der sein schweres Leben mit ihm trug.
Er brauchte sie.
Tatiana hoffte, dass sie dazu bereit war. An Dascha vermochte sie im Moment nicht zu denken.
Als Tatiana am Mittwochmorgen auf dem Weg zu Kirow war, kam sie an Feuerwehrleuten vorbei, die neue Wassertanks errichteten und Geräte aufbauten, die aussahen wie Hydranten. Bereitet sich Leningrad auf so große Brände vor?, fragte sie sich. Würden die deutschen Bomben die Stadt in Brand setzen? Sie konnte sich das gar nicht vorstellen. Es war beinahe so unvorstellbar wie Amerika.
Arbeiter verhüllten die große Auferstehungskathedrale und das Smolnyj-Kloster, die man in der Ferne sehen konnte, mit Netzen. Anschließend tränkten die Männer die Netze mit Tarnfarben. Was würden sie wohl mit den Gebäuden machen, die schwerer zu verbergen waren, wie die Admiralität und die Peter-Paul-Kathedrale?
Bevor Tatiana am Abend ihre Arbeitsstelle verließ, schrubbte sie sich Hände und Gesicht so lange, bis sie glänzten. Dann stellte sie sich vor den Spiegel in ihrem Spind und bürstete sich das Haar, das sie offen trug. An diesem Morgen hatte sie einen Rock mit Blumenmuster und eine blaue Bluse mit kurzen Ärmeln und weißen Knöpfen angezogen. Als sie sich danach im Spiegel musterte, fand sie, dass sie schrecklich kindlich darin aussah. Bitte, warte heute auf mich, dachte sie, bevor sie nun aus dem Fabrikgebäude eilte.
Schnell lief sie zur Bushaltestelle - und da stand Alexander, die Mütze in der Hand, und wartete auf sie.
»Deine Haare gefallen mir, Tania«, sagte er lächelnd.
»Danke«, murmelte sie. »Ich wünschte, ich würde nicht so nach Petroleum riechen. Nach Petroleum und Öl.«
»Oh nein«, erwiderte er und verdrehte die Augen. »Du hast doch nicht etwa schon wieder Bomben gebaut?«
Sie lachte.
Sie sahen auf die müde Menschenmenge, die auf den Bus wartete, blickten dann einander an und fragten beide gleichzeitig: »Tram?« Kurz darauf überquerten sie die Straße. »Zumindest arbeiten wir noch«, sagte Tatiana leichthin. »In der Prawda steht, dass es in deinem Amerika im Moment mit Arbeit nicht so gut aussieht. Hier in der Sowjetunion haben wir
Weitere Kostenlose Bücher