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Die Liebenden von Leningrad

Die Liebenden von Leningrad

Titel: Die Liebenden von Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paullina Simons
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rieb sich die Augen und rückte seine Mütze gerade. »Sag ihr, sie soll Minsk vergessen und sich auf die Panzer konzentrieren«, erwiderte er gepresst. »Wie viele müsst ihr jetzt pro Monat bauen?«
    »Hundertachtzig. Das schaffen wir aber nicht.« »Sie verlangen zu viel von euch.« »Warte mal!«
    Tatiana legte ihm spontan die Hand auf den Arm und nahm sie dann schnell wieder weg. »Warum soll Zina Minsk vergessen?«
    »Minsk ist vor dreizehn Tagen an die Deutschen gefallen«, antwortete Alexander ernst.
    »Was?« »Ja.«
    »Vor dreizehn Tagen? Oh nein ... nein!« Tatiana schüttelte den Kopf. »Alexander, das kann nicht stimmen. Minsk ist nur ein paar Kilometer südlich von ...« Tatiana konnte es nicht aussprechen.
    »Nicht nur ein paar Kilometer, Tania, viele Kilometer«, sagte er tröstend. »Hunderte von Kilometern.« »Nein, Alexander, so viele sind es auch wieder nicht«, entgegnete Tatiana und die Knie wurden ihr weich. »Warum hast du mir das nicht gesagt?«
    »Tania, das sind geheime Armeeinformationen! Ich erzähle dir schon so viel ich kann, aber ... Ich hoffe ja immer noch, dass du irgendwann etwas im Radio hörst, das der Wahrheit nahe kommt. Minsk ist schon sechs Tage nach Kriegsbeginn in die Hände der Deutschen gefallen. Selbst Genosse Stalin war überrascht. «
    »Warum hat er es uns nicht mitgeteilt, als er letzte Woche seine Ansprache im Radio hielt?«
    »Er hat euch doch seine Brüdern und Schwestern genannt, oder etwa nicht? Er wollte, dass ihr euch voller Zorn erhebt und kämpft. Was hätte es da genutzt, wenn er euch gemeldet hätte, wie weit die Deutschen inzwischen in die Sowjetunion vorgedrungen sind?«
    »Und wie weit sind sie bisher gekommen?«
    Als Alexander nicht antwortete, fragte sie gepresst: »Was ist mit Pascha?«
    »Tania!«, sagte er laut. »Ich verstehe nicht, was du von mir willst. Ich habe dir von Anfang an gesagt, ihr sollt ihn aus Tolmachewo herausholen.«
    Tatiana wandte sich ab und kämpfte mit den Tränen. Sie wollte nicht, dass er sie weinen sah.
    »Sie sind noch nicht in Luga«, sagte Alexander leiser. »Tolmachewo haben sie noch nicht erreicht. Versuche, dir nicht allzu viele Sorgen zu machen. Aber ich will dir noch eins sagen: Wir haben am ersten Tag des Krieges zwölfhundert Flugzeuge verloren!«
    »Ich wusste gar nicht, dass wir überhaupt zwölfhundert Flugzeuge besitzen.« »Es sind ungefähr so viele.« »Und was tun wir jetzt?«
    » Wir?«, fragte Alexander und blickte sie schweigend an. »Ich habe es dir doch schon gesagt, Tania: Verlasse Leningrad.« »Und ich habe dir gesagt, dass meine Familie nicht ohne Pascha geht.«
    Schweigend liefen sie nebeneinander her.
    »Bist du müde?«, erkundigte er sich schließlich. »Willst du nach Hause?«
    Ich bin müde. Aber ich will nicht nach Hause. Als Tatiana nicht antwortete, schlug Alexander vor: »Wir können zur Palastbrücke gehen. Ich glaube, am Fluss verkaufen sie Eiscreme.«
    Als sie ihr Eis gegessen hatten, gingen Tatiana und Alexander in westlicher Richtung an der Newa entlang, direkt in den Sonnenuntergang hinein. Gegenüber lag die grün-weiße Pracht des Winterpalasts. Plötzlich erblickte Tatiana auf der anderen Straßenseite einen Mann. Sie blieb sofort stehen. Ein großer, dünner Mann mittleren Alters mit einem langen, grauen Bart stand mit betrübtem Gesicht vor der Eremitage.
    Tatiana fragte sich, warum er so niedergeschlagen aussah. Er verharrte vor einem Militärlastwagen. Junge Männer beluden ihn gerade mit Holzkisten, die sie aus dem Winterpalast holten. »Wer ist das?«, fragte sie. »Der Kurator der Eremitage.« »Warum sieht er so traurig aus?«
    Alexander erwiderte: »Die Kisten enthalten die einzige Leidenschaft seines Lebens. Er weiß nicht, ob er sie jemals wiedersehen wird.«
    Tatiana starrte den Mann mitleidig an. Am liebsten wäre sie zu ihm hinüber gegangen und hätte ihn getröstet. »Er sollte mehr Vertrauen in die Zukunft haben, oder?« »Ja, du hast Recht, Tania.« Alexander lächelte. »Er sollte etwas mehr Vertrauen haben. Nach dem Krieg wird er seine Kisten wiedersehen.«
    »So wie er sie ansieht, wird er sie nach dem Krieg eigenhändig wieder zurückholen«, sagte Tatiana überzeugt. Vier graue Lastwagen parkten vor dem Museum. »Was, glaubst du, geht da vor sich?«
    Alexander antwortete nicht, blieb aber stehen und wies hinüber. Vier Männer traten aus den breiten grünen Türen und trugen weitere Holzkisten die Rampe hinunter. In die Kisten hatte man Löcher gebohrt.

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