Die Liebenden von Leningrad
alle auf etwas zu warten. »Worauf warten sie?«, fragte sie.
»Auf einen Zug. Sie sind schlau, sie verlassen die Stadt«, erklärte Alexander, »Tania ... du solltest auch verschwinden.« »Wohin sollte ich denn gehen?« »Irgendwohin. Nur weg von hier.«
Warum hatte sie noch vor einer Woche den Gedanken an eine Evakuierung so aufregend gefunden? Jetzt kam es ihr so vor, als würde ihr Todesurteil gesprochen.
»Laut meiner Informationen werden die Deutschen uns geradezu überrennen«, fuhr Alexander fort.
»Mach dir keine Sorgen«, erwiderte Tatiana mit aufgesetzter Fröhlichkeit. »Morgen haben wir immerhin schon wieder einen neuen Panzer.«
»Wir können uns nur noch auf unsere Soldaten verlassen, Tania. Ganz egal, was sie so fröhlich im Radio verkünden.« »Ja, die Sprecher klingen immer so optimistisch«, stimmte Tatiana ihm zu.
»Denk an meine Worte: Die Deutschen werden Leningrad stürmen. Die Stadt ist nicht mehr sicher. Du musst fort von hier!« »Aber meine Familie!« »Dann geh ohne sie.«
»Alexander, was redest du da?«, rief Tatiana lachend. »Ich war noch nie in meinem ganzen Leben irgendwo allein! Ich kann nicht einfach weggehen. Wohin denn auch? In den Ural oder dorthin, wohin sie die Leute evakuieren? Oder vielleicht nach Amerika? Ob ich dort sicher wäre?« Tatiana kicherte. Es war einfach unvorstellbar.
»Wenn du nach Amerika gehen könntest, wärst du bestimmt in Sicherheit«, bestätigte Alexander grimmig. Als Tatiana an diesem Abend nach Hause kam, sprach sie mit ihrem Vater über eine mögliche Evakuierung und über Pascha. Papa hörte ihr so lange zu, bis er dreimal an seiner Zigarette gezogen hatte. Dann stand er auf, drückte die Zigarette aus und fragte: »Taniuscha, wo zum Teufel hast du diese Gedanken her? Die Deutschen kommen nicht hierher und ich gehe nicht von hier weg. Pascha ist in Sicherheit. Das weiß ich! Hör zu, wenn es dich beruhigt, ruft Mama ihn morgen an, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung ist.« Deda sagte: »Tania, ich habe darum gebeten, in den Östlichen Ural nach Molotow evakuiert zu werden. Einer meiner Cousins lebt dort.«
»Er ist seit zehn Jahren tot, Wassili«, sagte Babuschka kopfschüttelnd. »Seit der Hungersnot von 1931.« »Seine Frau lebt aber noch.« »Sie ist 1928 an der Ruhr gestorben.«
»Das war seine zweite Frau. Seine erste Frau, Naira Michailowna, lebt noch.«
»Aber nicht in Molotow. Weißt du das denn nicht mehr? Sie wohnt da, wo wir auch einmal gewohnt haben, in diesem Ort namens ...«
»Frau!«, unterbrach Deda sie. »Willst du mitkommen oder nicht?«
»Ich komme mit, Deda«, erklärte Tatiana. »Ist es schön in Molotow?«
»Ich komme auch mit, Wassili«, schnaubte Babuschka. »Aber tu nicht so, als würden wir in Molotow jemanden kennen. Wir könnten genauso gut nach Chukhotka gehen.«
Tatiana warf ein: »Chukhotka ... ist das nicht in der Nähe des Polarkreises?«
»Ja«, antwortete Deda.
»Und in der Nähe der Beringstraße?«
»Ja«, sagte er wieder.
»Nun, vielleicht sollten wir dann wirklich nach Chukhotka gehen«, schlug Tatiana vor. »Wenn wir schon fort müssen,« »Chukhotka! Was soll ich denn da?«, rief Deda aus. »Glaubst du, dort kann ich Mathematik unterrichten?« »Tania ist wirklich ein Dummkopf«, sagte Mama. Tatiana schwieg. Sie dachte nicht an Dedas Mathematik. Sie dachte über ganz andere, viel banalere Dinge nach. Beinahe hätte sie laut aufgelacht.
»Wie kommst du denn jetzt ausgerechnet auf die Beringstraße, Tania?«, fragte Deda.
»Sie kommt ständig auf irgendwelche absurden Dinge«, warf Dascha ein. »Sie hat eben ein kompliziertes Innenleben.«
»Ich habe überhaupt kein kompliziertes Innenleben, Dascha«, fuhr Tatiana sie an. »Was liegt auf der anderen Seite der Beringstraße?«
»Alaska natürlich«, erwiderte Deda. »Warum?« »Hört jetzt endlich auf damit«, sagte Mama. Am nächsten Abend kam Tatianas Vater mit Lebensmittelkarten nach Hause. »Ist es zu glauben?«, fragte er. »Jetzt sind schon die Lebensmittel rationiert. Na ja, wir schaffen das schon.« Arbeiter bekamen achthundert Gramm Brot am Tag und einmal in der Woche ein Kilo Fleisch und ein halbes Kilo Getreide. Es konnte ausreichen.
»Mama, hast du versucht, Pascha anzurufen?«, wollte Tatiana wissen.
»Ja«, erwiderte sie. »Ich bin sogar zum Telefonbüro auf der Bolschaja Konjuschennaja Ulitsa gegangen, aber ich bin nicht durchgekommen. Ich versuche es morgen noch einmal.«
Die Meldungen von der Front waren
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