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Die Liebenden von Leningrad

Die Liebenden von Leningrad

Titel: Die Liebenden von Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paullina Simons
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fasziniert anstarrte. Sie wusste gar nicht, wohin sie zuerst schauen sollte: in seine karamellfarbenen, blitzenden Augen, deren Ausdruck so rasch wechseln konnte, oder auf seinen wunderschön geschwungenen Mund. Sie sog den Anblick seines Gesichts förmlich in sich auf, als hätte sie Angst, ihr könnte auch nur ein Detail entgehen.
    Es gab Dinge in Alexanders Leben, die er für sich behielt. Er redete nicht über das letzte Zusammentreffen mit seinem Vater, nicht darüber, wie aus ihm Alexander Below geworden war, und gab auch nicht preis, wofür er seinen Orden bekommen hatte. Tatiana machte sich nichts daraus und sie drängte ihn auch nicht, es ihr zu erzählen. Sie war dankbar dafür, dass er ihr vertraute, und wartete geduldig darauf, dass er ihr irgendwann einmal auch seine übrigen Geheimnisse offenbarte.

    »Manchmal wollen die Tage gar nicht enden«, sagte Tatiana eines Freitagabends zu Alexander und lächelte müde. »Wir haben heute einen ganzen Panzer fertig bekommen! Mit einem roten Stern und der Nummer sechsunddreißig. Kannst du einen Panzer fahren?«
    »Ich kann sogar mehr als das«, erwiderte er. »Ich kann ihn befehligen.«
    »Was ist der Unterschied?«
    »Befehligen heißt: Ich gebe den Befehl, auf Menschen zu schießen.«
    »Und das soll besser sein?«, murrte sie. »Ich möchte lieber in der Bäckerei arbeiten. Statt Panzer zu bauen, backen ein paar Glückspilze dort Brot.«
    »Je mehr, desto besser«, sagte Alexander.
    »Panzer?«
    »Nein, Brot.«
    »Sie haben uns allen eine Prämie versprochen, wenn wir über unser Plansoll hinauskommen. Stell dir das mal vor! Eine Prämie!« Tatiana kicherte. »Das verstößt gegen alles, was man uns seit unserer Geburt beigebracht hat.«
    »Ja, in der Tat, Tania«, bekräftigte Alexander. »Sie üben erst wieder Druck auf dich aus, wenn du selbst für ein paar Rubel extra nicht mehr so hart arbeiten willst.« »Sei nicht so rebellisch!« Sie lächelte. »Kein Wunder, dass du hier nicht sicher bist. Auf jeden Fall bringt die harte Arbeit Zina beinahe um. Sie wollte sich schon zu den Freiwilligen melden, weil das auch nicht schlimmer sein kann als der Druck in der Fabrik.«
    Nachdenklich ging Alexander neben Tatiana her. Der Bürgersteig war breit, aber sie blieben trotzdem so dicht beieinander, dass sich ihre Arme berührten. »Zina hat Recht«, sagte er schließlich. »Mach bloß keine Fehler. Du kennst doch die Geschichte von Karl Ots, oder?« »Von wem?«
    »Er war Fabrikdirektor bei Kirow, als das Ganze noch Putilow-Werke hieß, Karl Martowitsch Ots. Als Kirow 1934 ermordet wurde, versuchte Ots, die Ordnung aufrechtzuerhalten und seine Arbeiter vor - in Ermangelung eines besseren Ausdrucks -Vergeltung zu schützen,«
    Tatiana hatte von ihrem Vater und Großvater etwas über Ser-gei Kirow gehört. »Er wurde wirklich ermordet?«, fragte sie. Alexander nickte. »Ja. Eines Tages wurde ein T-28-Panzer inspiziert und man stellte fest, dass ein Bolzen fehlte. Der Panzer sollte gerade an die Armee ausgeliefert werden. Es gab natürlich einen Skandal und eine hektische Suche nach den feindlichen Saboteuren setzte ein.« Alexander holte tief Luft. Tatiana wartete geduldig.
    »Ots wusste, dass es sich nur um einen dummen Fehler handelte, dass ein Mechaniker aus Versehen vergessen hatte, den Bolzen anzuschrauben - nicht mehr und nicht weniger. Und da er das wusste, weigerte er sich, eine Hexenjagd zu veranstalten.« »Lass mich raten!«, sagte Tatiana. »Er hatte keinen Erfolg.« »Er hätte sich genauso gut mitten in einen Tornado stellen und ihn für einen leichten Wind erklären können.« »In einen Tornado?«, fragte Tatiana nach. Alexander fuhr ungerührt fort: »Hunderte von Menschen verschwanden aus der Fabrik.« Tatiana senkte den Kopf. » Auch Ots?« »Hmm. Mit ihm verschwanden sein Stellvertreter, die Leiter der Buchhaltung, die Leiter der Panzerproduktion, der Personalabteilung, der Werkzeugabteilung, ganz zu schweigen von früheren Putilow-Arbeitern, die Karriere gemacht hatten und irgendwo in hohen Positionen in der Regierung saßen. Oh, und nicht zu vergessen der Bürgermeister von Leningrad. Er verschwand auch.«
    Tatiana war tief in Gedanken versunken. Schließlich fragte sie: »Du meinst also, ich soll vorsichtig mit den Bolzen sein?« »Genau.«
    »Zina hat Recht. Wir halten diesen Druck nicht viel länger aus. Sie ist erschöpft. Sie möchte am liebsten nach Minsk zu ihrer Schwester fahren.« Minsk war die Hauptstadt von Weißrussland.
    Alexander

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