Die Liebenden von Leningrad
widersprüchlich. Die Kriegsbulletins, die man überall in Leningrad an Holzpfosten lesen konnte, waren vage formuliert. Im Radio hieß es, die Rote Armee sei siegreich, aber die deutschen Streitkräfte gewännen trotzdem an Boden.
Wie konnte die Rote Armee siegreich sein, wenn die Deutschen an Boden gewannen?, fragte sich Tatiana. Ein paar Tage später sagte Deda, die Chancen stünden gut, dass sie nach Molotow evakuiert würden, und er schlug vor, das Nötigste zusammenzupacken.
»Ich gehe nicht ohne Pascha«, giftete Mama. »Außerdem nähe ich in der Uniformfabrik jetzt Uniformen für die Rote Armee. Sie brauchen mich dort«, fügte sie etwas ruhiger hinzu. »Der Krieg wird bald vorbei sein. Ihr habt es doch auch im Radio gehört. Die Rote Armee ist siegreich, sie verjagt den Feind.« Deda schüttelte den Kopf. »Oh, Irina Fedorowna«, stöhnte er. »Die Deutschen sind die bestbewaffneten, bestausgebildeten Feinde, die man sich vorstellen kann. Hast du es nicht gehört? England kämpft schon seit achtzehn Monaten gegen sie und hat sie noch nicht geschlagen.«
»Aber Papuschka«, warf Papa ein, um seine Frau zu verteidigen, »jetzt sind die Nazis in einen echten Krieg verwickelt und nicht nur in einen Luftkrieg. Die sowjetische Front ist massiv. Die Deutschen werden es mit uns schwer haben.« Mama wiederholte: »Ich gehe nicht.« Und Dascha unterstützte sie. Darauf hätte ich wetten können, dachte Tatiana. Sie alle saßen in dem langen, schmalen Zimmer, Papa und Mama rauchten, Dascha nähte.
Tatiana hielt sich ein wenig abseits und hatte sich schon damit abgefunden, dass sie in Leningrad bleiben würde. Sie hatte sich ihre eigene Welt geschaffen und die hieß Alexander. Sie konnte jetzt nicht fortgehen. Sie lebte allein für die Abendstunden, die in ihr Gefühle weckten, die sie weder ausdrücken noch verstehen konnte. Freunde, die miteinander durch die weißen Nächte gingen. Mehr konnte sie nicht von ihm haben und mehr wollte sie im Moment auch nicht. Nichts als diese eine Stunde am Ende des Tages, in der ihr Herz wie verrückt schlug, in der ihr der Atem stockte und sie glücklich war. Zu Hause fühlte sich Tatiana geborgen, gleichzeitig aber zog sie sich von ihrer Familie zurück. »Mama, hast du endlich Pascha angerufen?« »Ich bin durchgekommen, aber niemand hat abgehoben«, erwiderte Mama. »Ich versuche es morgen noch einmal. Alle versuchen im Moment zu telefonieren, wahrscheinlich sind die Leitungen überlastet.«
Mama versuchte es immer wieder, aber sie erreichte Pascha nicht. Von der Front gab es keine guten Nachrichten und es wurde auch niemand evakuiert.
Alexander kam nun abends nicht mehr zu Besuch. Dascha arbeitete lange und Dimitri hielt sich an der finnischen Grenze auf.
Aber jeden Tag nach der Arbeit bürstete sich Tatiana das Haar und rannte nach draußen. Bitte, lass ihn da sein, flehte sie und jeden Tag nach der Arbeit stand Alexander am Tor und wartete auf sie, die Mütze in der Hand. Er bat sie aber nicht mehr, mit ihm in den Sommergarten zu gehen und dort auf der Bank unter den Bäumen zu sitzen.
Erschöpft und langsam gingen sie jedes Mal von der Straßenbahn zum Kanal und wieder zurück und trennten sich zögernd am Grecheskij Prospekt, drei Blocks entfernt von Tatianas Wohnung an der Fünften Sowjet.
Auf ihren Spaziergängen unterhielten sie sich über Alexanders Heimat oder über sein Leben in Moskau und gelegentlich auch über Tatianas Sommer in Luga und am Ilmensee. Bisweilen war der Krieg ihr Gesprächsthema, allerdings zunehmend seltener. Tatianas Sorge um Pascha wuchs und sie wollte nicht zu oft daran erinnert werden. Es kam auch vor, dass Alexander Tatiana ein wenig Englisch beibrachte oder dass sie sich gegenseitig Witze erzählten.
Manchmal schwiegen sie einfach nur. Ein paar Mal balancierte Tatiana auf dem Geländer am Obvodnoj-Kanal, wobei sie Alexanders Gewehr benutzte, um das Gleichgewicht zu halten. »Fall nur nicht ins Wasser, Tania, ich kann nämlich nicht schwimmen«, sagte er einmal.
»Wirklich nicht?«, fragte sie ungläubig und wäre fast ausgeglitten.
Alexander packte das Ende seines Gewehrs, um sie festzuhalten, und grinste. »Lass uns das lieber nicht ausprobieren. Ich möchte nicht gern meine Waffe verlieren.« »Schon gut«, erwiderte Tatiana lachend. »Ich kann hervorragend schwimmen. Ich rette dann dein Gewehr für dich. Sollen wir es mal ausprobieren?« »Nein, danke.«
Wenn Alexander ihr etwas erzählte, bemerkte Tatiana zuweilen, dass sie ihn
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