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Die Liebenden von Leningrad

Die Liebenden von Leningrad

Titel: Die Liebenden von Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paullina Simons
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»Sind das Gemälde?« Er nickte.
    »Vier Lastwagen voll mit Gemälden?« »Das ist noch gar nichts, das ist nur ein kleiner Teil.« »Alexander, warum holen sie die Gemälde aus der Eremitage?« »Weil wir im Krieg leben.«
    »Sie schaffen also die Kunstwerke fort?«, fragte Tatiana empört. »Ja.«
    »Wenn sie so viel Angst haben, dass Hitler nach Leningrad kommt, warum bringen sie denn dann die Menschen nicht weg?«
    Alexander lächelte sie an und am liebsten hätte sie ihre Frage zurückgenommen. »Tania, wer soll denn gegen die Nazis kämpfen, wenn die Menschen weg sind? Gemälde können das nicht.«
    »Aber die Bewohner von Leningrad sind doch gar nicht geübt im Kämpfen.«
    »Nein, aber wir . Deshalb bin ich ja hier. In unserer Garnison sind Tausende von Soldaten stationiert. Wir errichten Barrikaden und kämpfen. Zuerst schicken wir die frontoviks ...« »Du meinst Soldaten wie Dimitri?«
    »Ja. Er wird mit einem Gewehr auf die Straße geschickt. Wenn er tot ist, muss ich losziehen, mit einem Panzer wie dem, den du gebaut hast. Wenn ich tot bin, wenn alle Barrikaden niedergerissen und alle Waffen und Panzer verloren sind, dann schicken sie dich mit einem Stein.« »Und wenn ich tot bin?«, fragte Tatiana. »Du bist die Letzte in der Verteidigungslinie. Wenn du tot bist, marschiert Hitler in Leningrad ein, so wie er in Paris einmarschiert ist. Kannst du dich daran noch erinnern?« »Das ist nicht fair. Die Franzosen haben nicht gekämpft«, sagte Tatiana finster. Im Moment wäre sie gern überall gewesen, nur nicht hier vor der Eremitage, wo Männer Kunstschätze in Armeelaster verluden.
    »Sie haben nicht gekämpft, Tania, aber du wirst kämpfen. Um jede Straße und um jedes Gebäude. Und wenn du verlierst...« »Dann sind zumindest die Kunstwerke in Sicherheit.« »Ja, genau«, erwiderte Alexander. »Und ein anderer Künstler wird ein prächtiges Bild malen, mit dem er dich unsterblich macht. Er wird festhalten, wie du mit einem Stock in der Hand auf den deutschen Panzer zurennst, der über dich hinwegrollt. Im Hintergrund sieht man die Statue Peters des Großen auf seinem Bronzepferd. Dieses Bild wird in der Eremitage hängen, und wenn der nächste Krieg anfängt, wird der Kurator wieder auf der Straße stehen und seinen Kisten nachweinen.« Tatiana beobachtete, wie die Männer erneut hinter den grünen Türen verschwanden und kurz darauf mit weiteren Kisten herauskamen. »Bei dir klingt das so romantisch«, schwärmte sie. »So, als ob es sich lohnen würde, für Leningrad zu sterben.« »Lohnt es sich etwa nicht, Mütterchen Russland vor Hitler und für den Genossen Stalin zu bewahren?«, fragte Alexander. »Vielleicht ist es ja gar nicht so übel unter den Deutschen. Wir würden natürlich nicht frei sein. Aber was soll's? Wir würden zu essen haben und am Leben sein. Ein freies Leben ist zwar schöner, aber besser überhaupt leben als tot sein, oder nicht?« Als Alexander sie nur schweigend anblickte, fuhr Tatiana fort: »Wir könnten natürlich nicht in andere Länder reisen, aber das dürfen wir ja jetzt auch nicht. Und wer will auch schon in die heruntergekommenen Elendsviertel der westlichen Welt fahren, wo Fremde einander für fünfzig - wie heißt das? - cents umbringen? Das bringen sie uns doch in der Schule bei. Weißt du, vielleicht würde ich wirklich lieber mit einem Stein in der Hand vor dem ehernen Reiter sterben und dafür einem anderen das freie Leben erkämpfen, von dem ich nicht einmal träumen kann.«
    »Ja«, sagte Alexander rau. »Du würdest das tun.« Und mit einer zärtlichen und zugleich verzweifelten Geste legte er seine Hand auf Tatianas bloße Haut direkt unterhalb ihres Halses. Seine Handfläche war so groß, dass sie von ihrem Schlüsselbein bis zum Brustansatz reichte, und ihr Herz machte einen Satz. Tatiana blickte ihn hilflos an. Er beugte sich zu ihr, aber in diesem Moment trat eine uniformierte Wache an den Straßenrand und schrie ihnen zu: »Weg da, ihr zwei! Weg da! Was steht ihr da und gafft? Hier gibt es nichts zu sehen. Verschwindet!« Alexander löste sich von Tatiana, drehte sich um und funkelte die Wache finster an. Der Mann zog sich murrend zurück. Als sie sich ein paar Minuten später voneinander verabschiedeten, redeten sie nicht über den Vorfall, aber sie konnten einander nicht in die Augen blicken.
    Das Abendessen zu Hause bestand aus kalten Kartoffeln und kalten gebratenen Zwiebeln. Tatiana aß rasch, dann stieg sie aufs Dach und suchte den Himmel nach

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