Die Liebenden von Leningrad
Panzern überrollt. Erinnern Sie sich an Oberst Janow? Er ist tot. Die Deutschen haben wahllos Soldaten und Zivilisten erschossen, sie haben die Stadt geplündert und dann niedergebrannt.«
Alexander blieb ganz ruhig stehen und sah Oberst Stepanow unverwandt an. Dann sagte er: »Soll das heißen, die Rote Armee hat minderjährige Jungen in die Schlacht geschickt?« Stepanow stand auf. »Sie wollen uns gewiss nicht vorschreiben, wie wir unseren Krieg zu führen haben, Leutnant!« »Ich wollte nicht respektlos sein.« Alexander schlug die Hacken zusammen, grüßte, bewegte sich aber keinen Zentimeter. »Aber es ist unter militärischen Gesichtspunkten absoluter Wahnsinn, unausgebildete Jungen zusammen mit kampferprobten, befehlsgewohnten Offizieren den Nazis auszusetzen.« Oberst Stepanow verharrte hinter seinem Schreibtisch. Die beiden Männer schwiegen. Schließlich sagte der Oberst mit brüchiger Stimme: »Sagen Sie der Familie, dass ihr Sohn im Kampf um Mütterchen Russland gefallen ist. Er starb im Dienst unseres großen Führers, des Genossen Stalin.«
Später an diesem Morgen wurde Alexander ans Eingangstor gerufen. Während er die Treppe hinunterging, fürchtete er, Tatiana könne dort auf ihn warten. Er konnte ihr jetzt noch nicht gegenübertreten. Er wollte sie am Abend von Kirow abholen. Aber es war nicht Tatiana, sondern Dascha. Sie wirkte angespannt und durcheinander.
»Was ist los?«, fragte er und nahm sie beiseite, wobei er hoffte, dass sie ihn nicht auch nach Tolmachewo und Pascha fragen würde. Aber sie drückte ihm lediglich einen Zettel in die Hand und sagte: »Sieh dir das an! Sieh dir an, was meine verrückte Schwester getan hat!«
Er faltete das Blatt auseinander. Zum ersten Mal sah er Tatianas Handschrift. Sie war rund, klein und ordentlich.
Liebe Mama, lieber Papa,
ich schließe mich den Freiwilligen an, um Pascha zu suchen und ihn zu euch zurückzubringen. Tania
Nur mit Mühe gelang es Alexander, ein gleichmütiges Gesicht zu machen. Er gab Dascha den Brief zurück und fragte: »Wann ist sie aufgebrochen?«
»Gestern Morgen. Als wir aufstanden, war sie schon weg.« »Dascha, warum bist du nicht sofort zu mir gekommen? Seit gestern ist sie schon weg?«
»Wir hielten das Ganze für einen Witz. Wir dachten, sie käme bald zurück. Tatiana hat manchmal solche verrückten Ideen. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was in ihrem Kopf vor sich geht. Sonst kann sie nicht einmal selbstständig einkaufen gehen, und jetzt fährt sie allein an die Front! Mama und Papa sind außer sich. Sie haben sich solche Sorgen um Pascha gemacht, und jetzt auch noch das!«
»Machen sie sich Sorgen oder sind sie wütend?«, fragte Alexander.
»Sie sind außer sich. Sie haben schreckliche Angst um Tatiana.
Sie ...« Dascha brach ab. Tränen standen in ihren Augen. »Lieber«, sagte sie und drückte sich an Alexander, aber sein Gesicht blieb unbewegt, auch, als sie die Arme um ihn schlang. »Alexander, ich wusste nicht, an wen ich mich wenden sollte! Hilf uns, bitte! Hilf uns, meine Schwester wiederzufinden! Wir dürfen meine Tania nicht verlieren ...« »Ich weiß«, sagte Alexander.
»Bitte, Alexander!«, flehte Dascha. »Tust du das ... für mich?« Alexander tätschelte ihr den Rücken und trat einen Schritt zurück. »Ich werde sehen, was sich machen lässt.« Alexander umging seinen direkten Vorgesetzten, Major Orlow, und begab sich direkt zu Oberst Stepanow. Er bekam die Genehmigung, in einem Panzerlastwagen mit zwanzig Freiwilligen und zwei Feldwebeln Munition an die Front nach Luga zu transportieren. Alexander wusste, dass die Front dringend Verstärkung brauchte. Er versicherte Stepanow, dass er in ein paar Tagen wieder zurück sei.
Bevor er Alexander entließ, sagte Stepanow: »Kommen Sie heil zurück! Und bringen Sie die Männer gesund wieder, Leutnant! « Er machte eine kleine Pause.
»Ich werde mein Bestes tun, Genosse Oberst«, erwiderte Alexander und salutierte. Nicht viele Freiwillige waren in die Kasernen zurückgekehrt.
Bevor Alexander aufbrach, suchte er Dimitri auf und bot ihm einen Platz in der Schwadron an. Dimitri lehnte ab. »Dima«, sagte Alexander, »du solltest aber mitkommen!« »Ich schwimme doch dem Hai nicht direkt in den geöffneten Rachen!«, entgegnete Dimitri. »Hast du nicht gehört, was in Nowgorod passiert ist?«
Alexander steuerte den Panzerlaster selbst. Er war voll beladen mit Männern, mit fünfunddreißig Nagant-Gewehren, fünfunddreißig nagelneuen Tokarew-Gewehren,
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