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Die Liebenden von Leningrad

Die Liebenden von Leningrad

Titel: Die Liebenden von Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paullina Simons
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Gesicht aus der Fabrik. Atemlos hielt sie nach Alexander Ausschau. Er war nicht da.
    Tatiana saß bis weit nach neun Uhr auf der Bank. Dann stand sie auf und ging nach Hause.
    Es gab noch immer keine Nachricht von Pascha und Mama und Papa waren ganz elend vor Sorge. Sie weinten den ganzen Abend. Dascha war nicht zu Hause. Deda und Babuschka packten langsam ihre Habseligkeiten zusammen. Tatiana ging aufs Dach hinauf und beobachtete die Zeppeline, die wie weiße Wale am nördlichen Himmel dahinschwebten. Mit halbem Ohr lauschte sie Anton und Kirill, die Krieg und Frieden lasen und von ihrem Bruder Wolodja redeten, der in Tolmachewo vermisst war. Tatiana dachte an Pascha, den das gleiche Schicksal ereilt hatte.
    Alexander war nicht gekommen. Also wusste er auch nichts Neues. Oder er hatte schlechte Nachrichten und mochte sie ihr nicht überbringen. Tatiana kannte die Wahrheit. Er war nicht gekommen, weil er nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte. Mit ihr, mit ihrer kindischen Art, mit diesem Abschnitt seines Lebens. Sie waren Freunde gewesen. Sie waren im Sommergarten miteinander spazieren gegangen, aber er war ein Mann, und nach den Verwicklungen der letzten Zeit war die Sache für ihn zu Ende.
    Er hatte natürlich Recht. Und sie hatte beschlossen, sich nicht gehen zu lassen.
    Aber jeder Tag ohne ihn und ohne Pascha schmerzte sie. Hinzu kamen die harte Arbeit bei Kirow und die Schrecken des Krieges. All das erfüllte Tatiana mit einer verzweifelten Leere, die sie am liebsten laut hinausgeschrien hätte. Eins brauchte sie jetzt am dringendsten: den Bruder, der siebzehn Jahre lang dieselbe Luft wie sie geatmet hatte, der in derselben Schule, derselben Klasse gewesen und in derselben Umgebung aufgewachsen war.
    Während sie in der zunehmenden Dunkelheit auf dem Dach saß, hatte sie das Gefühl, sie könne Pascha spüren. Ihrem Bruder durfte einfach nichts passiert sein! Er wartete bestimmt darauf, dass Tatiana zu ihm kam. Und sie würde ihn finden! Sie wollte nicht wie die anderen Familienmitglieder einfach nur rauchend und redend dasitzen und die Hände in den Schoß legen. Tatiana wusste genau, dass sie sofort den letzten Monat vergessen würde, wenn sie nur fünf Minuten mit Pascha zusammen sein konnte.
    Sie würde auch Alexander vergessen. Und das war dringend nötig!
    Als alle zu Bett gegangen waren, lief Tatiana hinunter und schnitt sich mit einer Küchenschere die blonden Haare ab. Teilnahmslos sah sie zu, wie die langen Strähnen in das Spülbecken fielen. Als sie sich anschließend in dem kleinen, fast blinden Spiegel betrachtete, stellte sie fest, dass ihre Augen noch grüner wirkten als zuvor und ihre Sommersprossen noch deutlicher hervortraten. Was würde Alexander wohl davon halten, dass sie ihre schönen langen Haare geopfert hatte? Sie wusste, was er denken würde. Shura ...
    Als die Dämmerung anbrach, zog Tatiana die einzige beigefarbene Hose an, die sie finden konnte, packte ihre Zahnbürste und etwas Backsoda und Peroxyd für die Zähne und Paschas Schlafsack ein, hinterließ ihrer Familie eine kurze Nachricht und machte sich zu Fuß auf den Weg zu Kirow. An diesem Morgen war Tatiana für die Dieselmotoren eingeteilt. Sie schraubte die Zündkerzen ein. Sie leistete an diesem Abschnitt des Fließbands gute Arbeit, denn sie hatte schon so oft dort gearbeitet, dass sie nicht mehr über die Abläufe nachzudenken brauchte.
    Mittags ging sie mit Zina zusammen zu Krasenko. Sie teilten ihm mit, dass sie beide der Freiwilligenarmee beitreten wollten. Zina hatte schon seit über einer Woche davon gesprochen. Krasenko erklärte Tatiana, dass sie zu jung dazu sei. Sie widersprach ihm.
    »Warum bist du so hartnäckig, Tania?«, fragte Krasenko freundlich. »Luga ist nichts für ein Mädchen wie dich.« Sie entgegnete, dass sie über die hoffnungslose Lage dort im Bilde sei. Am schwarzen Brett hingen zahlreiche Aufrufe: »Auf nach Luga - zu den Schützengräben!«. Sie sagte, sie wisse, dass vierzehn- und fünfzehnjährige Jungen und Mädchen dort auf den Feldern Schützengräben aushoben. Sie und Zina wollten alles tun, um die Soldaten der Roten Armee zu unterstützen. Zina nickte schweigend. Tatiana war klar, dass sie eine Sondergenehmigung von Krasenko einholen musste. »Bitte, Sergei Andrejewitsch!«, flehte sie. »Nein«, sagte er.
    Doch Tatiana gab nicht nach. Sie erklärte Krasenko, vom nächsten Tag an würde sie den Urlaub nehmen, der ihr zustand, und sie würde so oder so nach Luga fahren, ob mit oder ohne

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