Die Liebenden von Leningrad
zu finden, würde sie nicht nach Leningrad zurückkehren, ohne etwas über seinen Verbleib erfahren zu haben. Wohin aber war sie gegangen?
Eine andere Möglichkeit als Luga gab es nicht. Sie war gewiss nach Luga gegangen, weil sie annahm, dass Pascha dort beim Aufbau der Frontlinie mitgeholfen hatte.
Voller neuer Hoffnung schlief Alexander ein.
Am nächsten Morgen hörte er schon bei Sonnenaufgang das ferne Dröhnen von Flugzeugen. Er hoffte, dass es sowjetische Flieger waren.
Aber so viel Glück war ihnen nicht beschieden. Deutlich sah man von unten das schwarze Hakenkreuz. Sechzehn Flugzeuge in zwei Formationen flogen über sie hinweg und er beobachtete, wie sich etwas von ihnen löste. Ringsum hörte er panische Schreie, doch es waren keine Bomben. Weiße und braune Blätter segelten wie Fallschirme zu Boden. Eins landete vor seinem Zelt. Sowjetische Männer!, stand darauf. Das Ende ist da. Kommt auf die Seite der Sieger - und ihr werdet leben! Ergebt euch - und ihr werdet leben! Der Nazismus ist dem Kommunismus überlegen. Ihr werdet zu essen haben, ihr werdet Arbeit haben, ihr werdet frei sein! Jetzt!
Das andere Blatt Papier war ein gültiger Pass, womit die Frontlinie überquert werden konnte. Alexander schleuderte beides zu Boden und ging, um sich zu waschen. Gegen neun Uhr morgens kamen weitere Flugzeuge, alle mit dem Hakenkreuz gekennzeichnet. Sie flogen nur ein paar hundert Meter über dem Boden. Die schweren Maschinengewehre in den Flugzeugen knatterten. Die deutschen Flieger schössen auf die Menschen, die auf den Feldern arbeiteten. Diese rannten um ihr Leben und suchten Schutz unter den Bäumen. Eins der Zelte fing Feuer. Die Nazis werfen hier keine Bomben, dachte Alexander, während er sich seinen Helm aufsetzte und sich in einen Schützengraben flüchtete. Nein, sie sparen sich ihre kostbaren Bomben für wichtigere Ziele auf. Doch kurz darauf fielen Splitterbomben, die in der Luft explodierten. Alexander hörte erstickte Schreie. Er blickte sich im Schützengraben nach seinen Männern um, sah aber niemanden, den er kannte. Die Bombardierung dauerte ungefähr eine halbe Stunde, dann drehten die Flugzeuge ab, nachdem sie eine weitere Ladung Flugblätter abgeworfen hatten. Ergebt euch oder ihr müsst sterben!, stand dieses Mal darauf. Ergebt euch oder ihr müsst sterben.
Um Alexander herum sah es aus wie nach der Apokalypse. Leichen trieben auf der Luga. Am Flussufer wanden sich Verletzte auf dem Boden. Alexander fand Kaschnikow, der zwar am Leben war, aber einen Teil seines Ohres verloren hatte. Aus der Wunde blutete es heftig auf seine Uniform. Schapkow war unversehrt. Den Rest des Morgens verbrachte Alexander damit, die Verwundeten ins Feldlazarett zu schaffen, und dann machte er sich daran, ein Massengrab auszuheben. Er und sechzehn seiner Männer gruben eine tiefe Grube am Wald, in die sie die Leichen der dreiundzwanzig Personen legten, die an diesem Morgen umgekommen waren. Elf Frauen, neun Männer, ein alter Greis und zwei Kinder unter zehn Jahren. Keiner von ihnen war Soldat.
Alexander blickte jeder der weiblichen Leichen ins Gesicht, und jedes Mal setzte sein Herzschlag beinahe aus. Dann ging er die Reihen der Verwundeten ab, aber auch dort fand er Tatiana nicht. Er hielt auch Ausschau nach Pascha. Er hatte einmal ein Bild von ihm gesehen, auf dem er als zwölfjähriger Junge in Badehose neben Tatiana stand und sie an den Zöpfen zog.
Schließlich suchte er Oberst Pjadischew auf. Nachdem er salutiert hatte, sagte Alexander: »Es ist schwer unter diesen Bedingungen, nicht wahr, Genosse Oberst?«
»Nun, Leutnant«, erwiderte Pjadischew, ein grüblerischer, fast kahlköpfiger Mann, »welche Bedingungen meinen Sie? Die des Krieges?«
»Nein, Genosse Oberst. Ich meine die Tatsache, dass wir so schlecht auf einen dermaßen unnachgiebigen Feind vorbereitet sind. Ich wollte Ihnen nur mein Mitgefühl für die bevorstehende Schlacht ausdrücken. Morgen werden wir weiter daran arbeiten, die Frontlinie zu befestigen.«
»Leutnant, Sie werden schon heute Abend daran weiterarbeiten, bis es dunkel ist! Glauben Sie etwa, morgen ist für die Nazis ein Feiertag? Glauben Sie, sie werden uns nicht wieder bombardieren?«
Auch Alexander war sicher, dass sie wieder Bomben abwerfen würden.
»Leutnant Below«, fuhr Oberst Pjadischew fort, »Sie sind gerade erst hier angekommen ...«
»Ich bin vor drei Tagen gekommen, Genosse Oberst«, unterbrach Alexander ihn.
»Vor drei Tagen, na gut. Nun, die Deutschen
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