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Die Liebeshandlung

Die Liebeshandlung

Titel: Die Liebeshandlung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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Hoheliedentlehnt zu sein schien, sondern seine praktische Anwendbarkeit. Das Buch war ein mit großer Detailgenauigkeit erzählter Leitfaden für das spirituelle Leben. Wenn die heilige Teresa zum Beispiel die mystische Vereinigung schilderte, schrieb sie: «Vielleicht seid ihr der Ansicht, die Seele werde dementsprechend nicht bei sich selbst, sondern so vertieft sein, daß sie auf nichts anderes mehr achten kann. Aber dies ist keineswegs der Fall. Sie achtet weit mehr als vorher auf alles, was den Dienst Gottes betrifft.» Oder weiter unten: «Doch ihr dürft das Gesagte nicht so verstehen, als ob die Seele beständig in dieser Gegenwart weile, so daß letztere sich immer so vollkommen, will sagen: so klar, zeigt wie das erste Mal oder wie zu anderen Zeiten, wenn der Herr ihr diese Gnade aufs neue erweisen will. Denn wäre dies der Fall, so wäre es freilich unmöglich, auf etwas anderes zu achten, ja auch nur, unter den Menschen zu leben.» Das hörte sich glaubwürdig an. Es hörte sich an wie etwas, was die heilige Teresa fünfhundert Jahre zuvor erfahren und aufgeschrieben hatte, so wirklich wie der Garten vor ihrem Klosterfenster in Avila. Man spürte den Unterschied zwischen einem, der sich Sachen ausdenkt, und einem, der eine metaphorische Sprache benutzt, um eine unbeschreibbare, aber wirkliche Erfahrung zu schildern. Als der Morgen dämmerte, ging Mitchell an Deck. Er war benommen von der Schlaflosigkeit, und ihm war schwindlig von dem Buch. Während er auf das graue Meer und die neblige Küste Irlands starrte, fragte er sich, in welcher Wohnung seine eigene Seele wohl war.
    Sie blieben zwei Tage in Dublin. Mitchell brachte Larry dazu, Joyce’ Kultstätten, die Eccles Street und den Martello Tower, zu besuchen. Larry nahm Mitchell mit, sich Jerzy Grotowskis «armes Theater» anzusehen. Am Tag darauf fuhren sie per Anhalter nach Westen. Mitchell versuchte Irland Aufmerksamkeitzu schenken, besonders der Grafschaft Cork, aus der die Familie seiner Mutter stammte. Aber es regnete die ganze Zeit, Nebel bedeckte die Felder, und mittlerweile las er Tolstoi. Es gab ein paar Bücher, die es schafften, den Leser durch das Getöse des Lebens beim Kragen zu packen und ihm nichts als die wahrsten Dinge mitzuteilen.
Meine Beichte
war so ein Buch. Darin erzählt Tolstoi eine russische Fabel von einem Mann, der, von einem Raubtier verfolgt, in einen Brunnen springt. Im Fallen sieht er allerdings, dass am Grund des Brunnens ein Drache darauf wartet, ihn zu verschlingen. Da bemerkt er einen Ast, der aus der Wand ragt, und er packt ihn und hängt sich daran. So fällt er weder in den Rachen des Drachen, noch wird er von dem Raubtier oben verschlungen, aber dann zeigt sich ein weiteres kleines Problem. Zwei Mäuse, eine schwarz und eine weiß, laufen auf dem Ast herum und nagen an ihm. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie den Ast durchgebissen haben und der Mann hinunterfallen wird. Während er über sein unausweichliches Schicksal nachdenkt, bemerkt er etwas anderes: Vom Ende des Astes, den er umklammert hält, tropft Honig herab. Er streckt die Zunge heraus und leckt ihn auf. Das, sagt Tolstoi, ist unser menschliches Dilemma: Wir sind der Mann, der sich an den Ast klammert. Der Tod wartet auf uns. Es gibt keinen Ausweg. Und so lenken wir uns ab, indem wir jeglichen Tropfen Honig auflecken, der in unsere Reichweite kommt.
    Das meiste von dem, was Mitchell am College gelesen hatte, hatte ihm keine große Weisheit eingebracht. Aber diese russische Fabel tat genau das. Sie traf auf Menschen im Allgemeinen zu und auf Mitchell im Besonderen. Was machten er und seine Freunde eigentlich anderes, als an einem Ast zu hängen und die Zunge herauszustrecken, um Süßes zu erhaschen? Er dachte an die Menschen, die er kannte, mit ihrentadellosen jungen Körpern, ihren Sommerhäusern, ihrer coolen Kleidung, ihren starken Drogen, ihrem Liberalismus, ihren Orgasmen, ihren Haarschnitten. Alles, was sie taten, war entweder schon an sich lustvoll oder so arrangiert, dass es am Ende lustvoll wurde. Sogar die ihm bekannten Menschen, die «politisch» waren und gegen den Krieg in El Salvador protestierten, taten das weitgehend, um sich in einem attraktiv kämpferischen Licht zu sonnen. Und die Künstler, die Maler und Schriftsteller, waren am schlimmsten, weil sie glaubten, sie lebten für die Kunst, während sie in Wirklichkeit ihrem Narzissmus frönten. Mitchell hatte sich immer etwas auf seine Disziplin eingebildet. Er studierte fleißiger

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