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Die Liebeshandlung

Die Liebeshandlung

Titel: Die Liebeshandlung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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Rücken. Er weinte jetzt, und sie versuchte ihn zu trösten, sagte die erforderlichen Dinge, küsste sein Gesicht, redete auf ihn ein, sie liebe ihn, sie liebe ihn, alles werde gut, sie liebe ihn so sehr.
    Sie rollte sich an ihm zusammen, und beide waren still.
    Danach mussten sie eingeschlafen sein, denn als Madeleine wieder wach wurde, war es im Zimmer dunkel. Siestand auf und zog sich an. Streifte ihre Cabanjacke über und ging hinaus an den Strand.
    Es war kurz nach zehn. Im Speisesaal und in der Bar brannte noch Licht. Direkt vor ihr ließ der abnehmende Mond Wolkenfetzen aufleuchten, die schnell über die dunkle Bucht hinwegjagten. Es wehte ein heftiger Wind, der Madeleine ins Gesicht blies, als wäre er persönlich an ihr interessiert. Als hätte er den ganzen Weg über den Kontinent zurückgelegt, um ihr eine Botschaft zu bringen.
    Sie besann sich auf das, was die Ärztin im Providence Hospital während ihres einzigen Gesprächs gesagt hatte: Es dauere oft eine Weile, bis die Dosierung richtig eingestellt sei. Nebenwirkungen seien anfangs immer am schlimmsten. Wenn man bedenke, dass Leonard in der Vergangenheit gut auf Lithium angesprochen habe, gebe es keinen Grund, dass er es nicht auch in Zukunft tue. Es sei nur eine Frage der richtigen Dosierung. Viele Patienten mit einer manischdepressiven Störung führten ein langes, produktives Leben.
    Madeleine hoffte, all das werde sich bestätigen. Das Zusammensein mit Leonard versetzte sie in einen gefühlsmäßigen Ausnahmezustand. Es war, als hätte ihr Blut, bevor sie ihn kennenlernte, gräulich ihren Körper durchströmt und wäre jetzt sauerstoffreich und rot.
    Sie erstarrte bei dem Gedanken, wieder zu der halb lebendigen Person zu werden, die sie vorher gewesen war.
    Während sie so dastand und auf die schwarzen Wellen starrte, drang ein Geräusch an ihre Ohren. Eine Art Dröhnen, das sich schnell über den Sand näherte. Als Madeleine sich umdrehte, schoss ein schwarzer, sich dicht am Boden bewegender Schatten hervor. Eine Sekunde später erkannte sie Diane MacGregors vorbeigaloppierenden Königspudel. Mitgeöffneter Schnauze, aus der die Zunge heraushing, war der Hundekörper gestreckt und zielgerichtet wie ein Pfeil.
    Kurz danach tauchte auch MacGregor auf.
    «Ihr Hund hat mich erschreckt», sagte Madeleine. «Er klang wie ein Pferd.»
    «Ich weiß, was Sie meinen», sagte MacGregor.
    Sie trug denselben Regenmantel wie zwei Wochen zuvor bei der Pressekonferenz. Ihr graues Haar hing schlaff zu beiden Seiten ihres zerknitterten, intelligenten Gesichts herab.
    «Wo ist sie hin?», fragte MacGregor.
    Madeleine zeigte in eine Richtung. «Dorthin.»
    MacGregor spähte in die Dunkelheit.
    Ohne das Bedürfnis weiterzureden standen sie nebeneinander am Strand.
    Schließlich brach Madeleine das Schweigen. «Wann fahren Sie nach Schweden?»
    «Was? Ach so, im Dezember.» Es schien MacGregor nicht zu interessieren. «Ich verstehe nicht, wieso die Schweden jemanden veranlassen, im Dezember nach Schweden zu kommen, verstehen Sie das?»
    «Sommer wäre schöner.»
    «Da ist dann fast überhaupt kein Tageslicht! Wahrscheinlich haben sie sich deshalb die Preise einfallen lassen. Damit die Schweden im Winter was zu tun haben.»
    Plötzlich raste der Hund, Sand hochschleudernd, wieder an ihnen vorbei.
    «Ich weiß nicht, warum es mich so glücklich macht, meinen Hund rennen zu sehen», sagte MacGregor. «Es ist, als würde ein Teil von mir mitrennen.» Sie schüttelte den Kopf. «So weit ist es gekommen. Dass ich stellvertreten durch meinen Pudel lebe.»
    «Es gibt Schlimmeres.»
    Nachdem der Pudel noch einige Male vorbeigeschossen war, kehrte er zurück und tänzelte auf den Hinterbeinen vor seinem Frauchen. Als er Madeleine entdeckte, sprang er an ihr hoch, um sie zu beschnüffeln, und rieb den Kopf an ihren Beinen.
    «Sie hängt nicht besonders an mir», sagte MacGregor durchaus objektiv. «Sie würde mit jedem gehen. Sollte ich sterben, sie würde mich im Nu vergessen. Nicht wahr?», sagte sie, rief den Pudel zu sich und rubbelte kräftig seinen Hals. «Ja, das würdest du. Das würdest du, das würdest du.»
    ***
    Nachdem sie Paris hinter sich gelassen hatten, begann Mitchell – auf dem Weg von Frankreich nach Irland, dann wieder zurück Richtung Süden, durch Andalusien bis hinunter nach Marokko   –, bei jeder sich bietenden Gelegenheit in eine Kirche zu schlüpfen. Das hier war Europa, und überall gab es Kirchen, aufsehenerregende Kathedralen ebenso wie stille

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