Die Liebeshandlung
kleine Kapellen, alle noch genutzt (wenn auch meistens leer) und jede offen für einen wallfahrenden Pilger, selbst einen wie Mitchell, der sich seiner Berufung nicht sicher war. Er ging in diese dunklen Räume des Aberglaubens und starrte auf verblasste Fresken oder rohe, blutrünstige Gemälde von Jesus. Er spähte in staubige Reliquiengefäße mit den Knochen des heiligen Sonstwer. Bewegt und feierlich zündete er Votivkerzen an, immer mit demselben unpassenden Wunsch: dass Madeleine, auf irgendeine Weise, eines Tages sein werden möge. Mitchell glaubte nicht an die Wirkung der Kerzen. Er hatte etwas gegen Bittgebete. Aber er fühlte sich ein bisschen besser, wenn er eine Kerze für Madeleine anzündete und in der Stille einer alten spanischen Kirche eine Weile ansie dachte, während draußen das Meer des Glaubens zurückwich, «die trüben ausgedehnten Strände und nackten Kieselsteine der Welt hinab».
Mitchell war sich vollkommen bewusst, wie seltsam er sich verhielt. Aber es machte nichts, denn es war ja niemand in der Nähe, der es bemerkte. Auf Kirchenbänken mit starren Lehnen, den Geruch von Kerzenwachs in der Nase, schloss er die Augen, saß so still wie möglich und öffnete sich dem, was auch immer da war und Interesse an ihm haben könnte. Vielleicht war da nichts. Aber wie konnte man es je erfahren, wenn man kein Signal aussandte? Das tat Mitchell: Er sandte ein Signal an die Zentrale.
In den Zügen, Bussen und Schiffen, die sie zu all diesen Orten brachten, las Mitchell die Bücher aus seinem Rucksack hintereinanderweg. Mit dem Geist des Thomas von Kempen, des Verfassers der
Nachfolge Christi
, war schwer in Verbindung zu treten. Teile der
Bekenntnisse
des heiligen Augustinus, insbesondere die Auskunft über seine genussfreudige Jugend und seine afrikanische Frau, waren aufschlussreich.
Die Seelenburg
der heiligen Teresa von Avila erwies sich allerdings als fesselnde Lektüre. Mitchell verschlang das Buch auf der nächtlichen Überfahrt mit der Fähre von Le Havre nach Rosslare. Von der Gare Saint-Lazare aus waren sie in die Normandie gefahren, um das Restaurant zu besuchen, in dem Larry während seiner Highschoolzeit gearbeitet hatte. Nach einem gewaltigen Mittagessen mit der Wirtsfamilie und anschließender Übernachtung in deren Haus machten sie sich auf nach Le Havre zur Überfahrt. Es war schwerer Seegang. Passagiere blieben die Nacht über wach an der Bar oder versuchten, auf dem Boden des Aufenthaltsraums zu schlafen. Beim Erkunden des Unterdecks verschafften Mitchell und Larry sich Zugang zu einer leeren Offizierslounge mit Jacuzziund Betten, und mitten in diesem unberechtigten Luxus las Mitchell vom Aufstieg der Seele bis hin zur mystischen Vereinigung mit Gott.
Die Seelenburg
beschrieb eine Vision der heiligen Teresa, die sie von der Seele gehabt hatte. «Betrachten wir unsere Seele als eine Burg, die ganz aus einem Diamanten oder sehr klarem Kristall hergestellt ist; dort gibt es viele Gemächer, gleichwie auch im Himmel viele Wohnungen sind.» Anfangs liegt die Seele im Dunkeln außerhalb der Burgmauern, geplagt von den Giftschlangen und den stechenden Insekten ihrer Sünden. Durch die Kraft der Gnade jedoch kriechen einzelne Seelen aus diesem Sumpf heraus und klopfen an die Pforte. «Am Ende treten sie doch noch in die ersten Gemächer des Erdgeschosses ein; allein die Menge des Ungeziefers, das sie mit sich nehmen, läßt sie die Schönheit der Burg nicht sehen und gestattet ihnen keine Ruhe. Sind sie indessen nur eingetreten, so haben sie dadurch schon viel getan.» Die ganze Nacht hindurch, während die Fähre stampfte und schlingerte und Larry schlief, las Mitchell, wie die Seele durch die anderen sechs Wohnungen voranschritt, indem sie sich mit Gebeten erbaute, sich durch Selbstkasteiung und Fasten marterte, Barmherzigkeit übte, meditierte, betete, in sich ging, ihre alten Gewohnheiten abwarf und sich vervollkommnete, bis sie dem göttlichen Gemahl anverlobt wurde. «Wenn unser Herr in seinem Mitleid über das, was die Seele durch ihre Sehnsucht nach ihm bisher gelitten hat und noch leidet, sich ihrer erbarmen will, so führt er sie, bevor die mystische Vermählung vollzogen wird, in seine eigene, das ist in diese siebente Wohnung ein; denn wie er im Himmel eine Wohnung hat, so muß wohl auch in der Seele eine Stätte oder, sagen wir, ein anderer Himmel sein, wo er allein wohnt.» Was Mitchell an dem Buch beeindruckte, war nicht so sehr diese Art von Metaphorik, die dem
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