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Die Liebeshandlung

Die Liebeshandlung

Titel: Die Liebeshandlung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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werden.»
    Bart
. So sprach man es also aus. Madeleine machte sich eine Notiz, dankbar, dass ihr die Peinlichkeit erspart blieb.
    Unterdessen fuhr Thurston fort: «Da begeht HandkesMutter also Selbstmord, und Handke setzt sich hin, um darüber zu schreiben. Er will so objektiv wie möglich sein, vollkommen – erbarmungslos!» Thurston verkniff sich ein Lächeln. Am liebsten wäre er selbst jemand gewesen, der die Größe besaß, mit hochliterarischer Erbarmungslosigkeit auf den Selbstmord seiner Mutter zu reagieren, und sein weiches, junges Gesicht leuchtete vor Entzücken. «Selbstmord ist ein Tropus», verkündete er. «Vor allem in der deutschen Literatur. Da wäre Goethe mit seinem
Werther
. Da wäre Kleist. Hey, eben fällt mir etwas ein.» Er reckte einen Finger in die Luft: «
The Sorrows of Young Werther.
» Er hielt den Handke-Titel hoch: «
A Sorrow Beyond Dreams
. Meine These ist, dass Handke sich von der Last dieser großen Tradition erdrückt fühlte und dass dieses Buch sein Befreiungsschlag war.»
    «Wie meinen Sie das, ‹Befreiung›?», fragte Zipperstein.
    «Von dem ganzen teutonischen Sturm-und-Drang-Selbstmord-Scheiß.»
    Der wirbelnde Schnee draußen vor den Fenstern sah halb nach Seifenflocken, halb nach Flockenasche aus, nicht richtig sauber und nicht richtig schmutzig.
    «Die
Werther-
Anspielung scheint mir zwar gelungen», sagte Zipperstein. «Aber sie ist wohl eher das Werk des Übersetzers als das von Handke. Auf Deutsch heißt das Buch
Wunschloses Unglück

    Thurston lächelte, entweder vor Freude, weil er Zippersteins volle Aufmerksamkeit bekam, oder weil er fand, das Deutsche höre sich komisch an.
    «Dahinter verbirgt sich ein Wortspiel mit einer deutschen Redewendung:
wunschlos glücklich sein
– das bedeutet, man ist so glücklich, dass man keine Wünsche mehr hat. Nur dass Handke hier eine hübsche Sinnverkehrung macht. Es ist ein ernster und seltsam schöner Titel.»
    «Dann bedeutet er also, man ist so unglücklich, dass man keine Wünsche mehr hat», sagte Madeleine.
    Zipperstein sah sie zum ersten Mal an.
    «Gewissermaßen. Aber wie gesagt, bei der Übersetzung geht etwas verloren. Welchen Eindruck hatten Sie?»
    «Von dem Buch?», fragte Madeleine und wurde sich im selben Moment bewusst, wie dämlich das klang. Sie verstummte, das Blut pochte in ihren Ohren.
    Man errötete in englischen Romanen aus dem neunzehnten Jahrhundert, aber nicht in zeitgenössischen aus Österreich.
    Bevor das Schweigen unangenehm wurde, kam Leonard ihr zu Hilfe. «Ich möchte etwas dazu sagen», warf er ein. «Wenn ich über den Selbstmord meiner Mutter schreiben wollte, würde ich mir bestimmt keinen Kopf darüber machen, wie das experimentell hinzukriegen ist.» Er beugte sich vor, beide Ellbogen auf dem Tisch. «Ich meine, hat sich denn niemand von Handkes sogenannter Erbarmungslosigkeit abgestoßen gefühlt? Hat niemand dieses Buch als etwas kalt empfunden?»
    «Besser kalt als sentimental», sagte Thurston.
    «Findest du? Warum?»
    «Weil wir sentimentale Berichte von Söhnen und Töchtern über geliebte verstorbene Eltern schon oft genug gelesen haben. Tausendfach haben wir die gelesen. So was hat keine Kraft mehr.»
    «Ich mache hier mal ein kleines Gedankenexperiment», sagte Leonard. «Nehmen wir an, meine Mutter hätte sich umgebracht. Und nehmen wir an, ich schriebe ein Buch darüber. Warum würde ich so etwas tun?» Er schloss die Augen und kippte den Kopf nach hinten. «Erstens würde ich es tun, um mit meinem Kummer klarzukommen. Zweitens vielleicht,um ein Bild von meiner Mutter zu entwerfen. Damit sie in meiner Erinnerung lebendig bleibt.»
    «Und du glaubst, deine Reaktion wäre universell», sagte Thurston. «Weil du auf eine bestimmte Weise mit dem Tod eines Elternteils umgehst, müsste Handke es genauso machen.»
    «Ich sage nur, dass es kein literarischer Tropus ist, wenn deine Mutter sich umbringt.»
    Madeleines Herzschlag hatte sich wieder beruhigt. Sie hörte der Diskussion interessiert zu.
    Thurston nickte, aber nicht unbedingt zustimmend. «Ja, okay», sagte er. «Handkes
wirkliche
Mutter hat sich umgebracht. Sie ist in einer
wirklichen
Welt gestorben, und Handke hat
wirklichen
Kummer oder was auch immer empfunden. Aber darum geht es nicht in diesem Buch. In Büchern geht es nicht ums
wirkliche Leben
. Bücher sind Bücher über andere Bücher.» Er hob seinen Mund wie ein Blasinstrument und stieß helle Töne aus. «Meine These ist, dass Handke hier, literarisch gesehen,

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