Die Liebeshandlung
Argentinien, wo das
Kühlsystem total zusammengebrochen
war. Seine Frau Mildred fühlte sich veranlasst, als Nächste zu sprechen. Sie stand nicht auf wie ihr Mann, sondern blieb mit geschlossenen Augen sitzen und sprach mit klarer Stimme, ihr hübsches Altfrauengesicht in lächelndem Erinnern angehoben. «Vielleicht liegt es daran, dass Sommer ist – ich weiß nicht –, aber heute fällt mir ein, wie ich als kleines Mädchen zu den Meetings ging. Im Sommerkam es mir immer am härtesten vor, still zu sitzen und ruhig zu sein. Deshalb entwickelte meine Großmutter eine Strategie. Bevor das Meeting anfing, holte sie jedes Mal ein Butterscotch-Bonbon aus ihrer Handtasche. Sie sorgte dafür, dass ich es sah. Aber sie gab es mir nicht. Sie behielt es in der Hand. Und wenn ich brav war und mich wie eine anständige junge Dame benahm, gab sie mir das Bonbon nach fünfundvierzig Minuten oder so. Jetzt bin ich zweiundachtzig, beinahe dreiundachtzig, und wisst ihr was? Ich fühle mich noch genauso wie damals. Ich warte immer noch darauf, dass mir dieses Butterscotch-Bonbon in die Hand gedrückt wird. Aber ich warte nicht mehr auf etwas Süßes. Nur auf einen sonnigen Sommertag wie diesen, mit der Sonne wie ein dickes, großes Butterscotch-Bonbon am Himmel. Ich merke schon, ich werde poetisch. Also höre ich lieber auf.»
Was Mitchell betraf, so sagte er in den Meetings nichts. Der Geist bewog ihn nicht zum Sprechen. Er saß auf der Bank, genoss die morgendliche Stille und den Modergeruch des Meeting House. Aber er fühlte sich nicht zur Erleuchtung berechtigt.
Die Scham, die er wegen seines Davonlaufens aus dem Kalighat empfand, war nicht vergangen, auch nicht nach sechs Monaten. Nachdem er Kalkutta verlassen hatte, war er, wie auf der Flucht, ohne festen Plan im Land herumgereist. In Benares stieg er in der Yogi Lodge ab und ging jeden Morgen zu den Bestattungs-Ghats am Ganges hinunter, um bei der Verbrennung der Leichen zuzuschauen. Er mietete einen Bootsführer, der ihn auf den Ganges hinausruderte. Nach fünf Tagen fuhr er mit dem Zug zurück nach Kalkutta und von dort Richtung Süden. Er reiste nach Madras, zum ehemaligen französischen Außenposten Pondicherry (der Heimat von Sri Aurobindo) und nach Madurai. Er übernachteteeinmal in Trivandrum am südlichen Ende der Malabar-Küste, und von da aus fuhr er die westliche Küste wieder hinauf. In Kerala stieg die Zahl derer, die lesen und schreiben konnten, und Mitchell aß seine Mahlzeiten von Dschungelpflanzenblättern statt von Tellern. Er hielt Kontakt mit Larry über AmEx in Athen, und Mitte Februar kamen sie in Goa wieder zusammen.
Anstatt nach Kalkutta zu fliegen, wie es Larrys Ticket eigentlich vorsah, buchte er nach Bombay um und fuhr von dort mit dem Bus nach Goa. Sie hatten sich mittags um zwölf am Busbahnhof verabredet, aber Larrys Bus hatte Verspätung. Mitchell kam und ging dreimal, musterte die Passagiere aus verschiedenen bunten Bussen, bevor Larry endlich gegen vier Uhr nachmittags aus einem ausstieg. Mitchell war so froh, Larry zu sehen, dass er nicht aufhören konnte, zu lächeln und ihm auf den Rücken zu klopfen.
«Gut, Mann!», sagte er. «Du hast’s geschafft!»
«Was ist passiert, Mitchell?», sagte Larry. «Bist du mit dem Kopf unter einen Rasenmäher geraten?»
Für die nächste Woche mieteten sie eine Hütte am Strand. Sie hatte ein tropisch anmutendes Dach aus Palmzweigen und einen unangenehm zweckmäßigen Betonboden. Die anderen Hütten waren alle voller Europäer, die zumeist nackt herumliefen. Auf dem terrassierten Hang sammelten sich goanische Männer zwischen Palmen, um die unanständigen westlichen Frauen weiter unten zu begaffen. Was Mitchell anging, so empfand er sich als zu durchscheinend weiß, um sich zu entblößen, und blieb im Schatten, doch Larry trotzte dem Sonnenbrand und verbrachte einen guten Teil jedes Tages mit seinem Seidenschal um den Kopf am Strand.
Während dieser heiteren, von Zephir erfüllten Tage und etwas kühlen Nächte erzählten sie sich Geschichten aus derZeit, als sie getrennt gewesen waren. Larry war von Mitchells Erfahrung im Kalighat beeindruckt. Er schien nicht der Meinung zu sein, dass drei Wochen freiwilliger Dienst nichts zählten.
«Ich denke, es ist toll, dass du es gemacht hast», sagte er. «Du hast für Mutter Teresa gearbeitet! Nicht, dass ich so etwas machen wollte. Aber für dich, Mitchell, war es genau das Richtige.»
Die Sache mit Iannis war nicht so gut ausgegangen. Er hatte
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