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Die Liebeshandlung

Die Liebeshandlung

Titel: Die Liebeshandlung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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wieder unten auf dem Broadway standen, war sie enttäuscht, dass sie nach Hause fuhren. Seit über einem Jahr sorgte sie schon für Leonard, hoffte, dass er sich erholen würde, und jetzt ging es ihm schlechter denn je. Da sie gerade von einer Party kam, auf der alle anderen glücklich und gesund zu sein schienen, fand sie die Situation extrem ungerecht.
    «Kannst du nicht einfach für eine Stunde auf eine Party gehen, ohne dich so zu benehmen, als würdest du gefoltert?»
    «Nein, kann ich nicht, Madeleine. Das ist ja das Problem.»
    Eine Masse Menschen strömten aus der Subway herauf. Madeleine und Leonard mussten zur Seite treten, um sie durchzulassen.
    «Ich sehe ein, dass du depressiv bist, Leonard. Aber du nimmst Medikamente dagegen. Andere Leute nehmen Medikamente, und denen geht’s gut.»
    «Damit willst du wohl sagen, dass ich selbst für einen Manisch-Depressiven ziemlich gestört bin.»
    «Ich will damit sagen, dass es fast so scheint, als wärst du manchmal
gern
depressiv. Als bekämst du, wenn du nicht depressiv wärst, vielleicht nicht die ganze Aufmerksamkeit. Ichwill damit sagen, bloß weil du depressiv bist, heißt das nicht, dass du mich anschreien kannst, weil ich frage, ob du dich amüsiert hast!»
    Leonards Gesicht nahm plötzlich einen seltsamen Ausdruck an, als wäre er auf eine düstere Art und Weise belustigt. «Wenn du und ich Hefezellen wären, weißt du, was wir täten?»
    «Ich will nichts mehr von Hefe hören!», sagte Madeleine. «Ich habe die Nase voll von Hefe.»
    «Vor die Wahl gestellt, ist der Idealzustand einer Hefezelle, diploid zu sein. Wenn das aber in einem Milieu mit Nährstoffmangel stattfindet, weißt du, was dann passiert?»
    «Ist mir egal!»
    «Die Diploiden zerfallen wieder in Haploiden. Einsame kleine Haploiden. In einer Krise ist es nämlich leichter, als Einzelzelle zu überleben.»
    Madeleine spürte, dass ihr Tränen in die Augen stiegen. Die Wärme des Bourbons war nicht mehr warm, sondern ein Brennen in ihrer Brust. Sie versuchte die Tränen wegzublinzeln, doch ein Tropfen rollte ihr die Wange hinunter. Sie schnipste ihn mit dem Finger weg. «Warum tust du das?», schrie sie. «Willst du uns auseinanderbringen? Ist es das?»
    «Ich will dir dein Leben nicht verderben», sagte Leonard in sanfterem Ton.
    «Du verdirbst es mir nicht.»
    «Die Tabletten verlangsamen den Prozess nur. Aber das Ende ist unausweichlich. Die Frage ist, wie schalte ich dieses Ding ab?» Er stieß mit dem Zeigefinger an seinen Kopf. «Es zerhackt mich, und ich kann es nicht abschalten. Madeleine, hör mir zu.
Hör zu.
Ich werde nicht wieder gesund.»
    Seltsamerweise schien es ihn zu befriedigen, das zu sagen, als wäre er erfreut, die Lage so klar zu beschreiben.
    Aber Madeleine bestand darauf: «Wirst du doch! Du meinst das jetzt nur, weil du depressiv
bist
! Aber der Arzt sagt was anderes.»
    Sie schlang die Arme um seinen Hals. Noch vor kurzem war sie so glücklich gewesen, weil sie den Eindruck hatte, dass das Leben von Leonard und ihr endlich eine neue Richtung einschlug. Aber jetzt erschien das alles wie ein grausamer Scherz, die Wohnung, Columbia, alles. Sie standen am Eingang zur Subway, eines dieser sich umarmenden, weinenden Paare in New York, ignoriert von allen, die vorübergingen, ein Augenblick der Intimität mitten im Gewimmel der Stadt an einem heißen Sommerabend. Madeleine sagte nichts, weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte. Sogar «Ich liebe dich» erschien unpassend. Sie hatte es so oft in solchen Situationen zu Leonard gesagt, dass sie befürchtete, es verliere seine Kraft.
    Aber sie hätte es trotzdem sagen sollen. Sie hätte Leonards Hals weiter umschlingen und nicht loslassen sollen, denn sobald sie aufhörte, ihn zu umarmen, drehte er sich mit rasanter Entschiedenheit um und floh die Treppe zur Subway hinunter. Zunächst war Madeleine zu überrascht, um zu reagieren. Doch dann rannte sie hinterher. Als sie unten an der Treppe ankam, entdeckte sie ihn nicht. Sie lief an dem Schalter vorbei zum anderen Ausgang. Sie dachte, Leonard wäre wieder zur Straße hinaufgelaufen, bis sie ihn auf der anderen Seite der Drehkreuze auf die Gleise zugehen sah. Während sie in ihrer Tasche nach Kleingeld kramte, um eine Münze zu kaufen, spürte sie das Gerumpel einer herannahenden Bahn. Wind fegte durch den Subwaytunnel und wirbelte Abfälle auf. Als Madeleine klarwurde, dass Leonard über das Drehkreuz gesprungen war, beschloss sie, es ihm nachzumachen. Sie nahm Anlauf und

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