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Die Liebeshandlung

Die Liebeshandlung

Titel: Die Liebeshandlung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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sprang über die Absperrung.Zwei Teenager in der Nähe lachten, als sie das sahen, eine Upper-East-Side-Schnepfe in einem Kleid. Die Lichter der Bahn tauchten im Tunnel auf. Leonard hatte die Bahnsteigkante erreicht. Die Bahn fuhr dröhnend ein, und im Laufen sah Madeleine, dass sie zu spät kam.
    Und dann wurde die Bahn langsamer und hielt an. Leonard stand noch da und wartete.
    Madeleine holte ihn ein. Sie rief seinen Namen.
    Er drehte sich um und sah sie mit leeren Augen an. Er streckte die Arme aus und legte ihr liebevoll die Hände auf die Schultern. Mit sanfter Stimme, in der Mitleid und Traurigkeit mitschwangen, sagte Leonard: «Ich verstoße dich, ich verstoße dich, ich verstoße dich.»
    Und dann stieß er sie unsanft zurück und sprang in den Zug, bevor die Türen sich schlossen. Er wandte sich nicht um, um sie durchs Fenster anzusehen. Der Zug setzte sich in Bewegung, zunächst so langsam, dass Madeleine ihn mit der Hand anhalten zu können schien – alles anhalten zu können schien: das, was Leonard gerade gesagt hatte, seinen Stoß und ihren mangelnden Widerstand dagegen, ihre Mitwirkung   –, doch schon bald beschleunigte der Zug über ihre Kräfte hinaus, ihn anzuhalten oder sich zu belügen; und jetzt wirbelte der ganze Abfall auf dem Bahnsteig herum, und die Räder des Zuges kreischten, und die Lichter im Waggon gingen an und aus wie die Lichter eines defekten Kronleuchters oder die Zellen in einem sterbenden Gehirn, während der Zug in die Dunkelheit verschwand.

Das Junggesellinnen-Überlebensset
    A n den Quäkern gab es viel Bewundernswertes. Sie hatten keine klerikale Hierarchie. Sie sagten kein Glaubensbekenntnis auf, duldeten keine Predigten. Sie hatten schon im 17.   Jahrhundert für ihre Zusammenkünfte die Gleichberechtigung von Mann und Frau eingeführt. Nahezu jede soziale Bewegung in Amerika, die einem nur einfallen mochte, war von den Quäkern unterstützt und häufig auch initiiert worden, von der Abschaffung der Sklaverei über die Frauenrechte und die Abstinenzbewegung (na gut, ein Fehler) bis hin zu den Bürgerrechten und zum Umweltschutz. Die Gesellschaft der Freunde traf sich an einfachen Orten. Sie saßen schweigend da und warteten auf das Licht. Sie waren in Amerika, aber nicht Amerika. Sie weigerten sich, in Amerikas Kriegen mitzukämpfen. Als die U S-Regierung im Zweiten Weltkrieg japanische Mitbürger internierte, hatten die Quäker sich dieser Maßnahme heftig widersetzt und waren gekommen, um den japanischen Familien, die in Züge verfrachtet wurden, zum Abschied zu winken. Die Quäker hatten einen Spruch: «Wahrheit aus jeglicher Quelle». Sie waren ökumenisch und vorurteilslos, sie gestatteten Agnostikern und sogar Atheisten, ihre Jahrestreffen zu besuchen. Zweifellos war es dieser integrative Geist, der die kleine Gruppe von Gläubigen im Friends Meeting House in Prettybrook veranlasste, für Mitchell Platz zu machen, als er an heißen Juli-Sommertagen morgens auftauchte.
    Das Meeting House stand am Ende einer Schotterstraße direkt hinter dem Schlachtfeld von Prettybrook. Der schlichteBau aus ohne Mörtel verlegten Steinen mit einer weißen Veranda und einem einzigen Schornstein war seit seiner Erbauung – der Plakette zufolge 1753 – nur durch die Installation von elektrischem Licht und einer Heizungsanlage verändert worden. Am Schwarzen Brett hingen ein Handzettel für eine Anti-AK W-Demo , ein Appell, bei der Regierung eine Petition für den im Vorjahr wegen Mordes verurteilten Mumia Abu-Jamal einzureichen, und verschiedene Broschüren zum Quäkertum. Im eichengetäfelten Inneren des Hauses waren Holzbänke so aufgestellt, dass die Besucher der Zusammenkünfte sich gegenübersaßen. Licht kam von versteckten Dachgauben über einer wunderschön gezimmerten, gewölbten Decke aus grauen Holzlatten.
    Mitchell saß gern in der letzten Bankreihe, hinter einer Säule. Dort hielt er sich für auffälliger. Je nach dem Meeting (es gab zwei First Day Meetings, eins um sieben Uhr morgens, das andere um elf) ließen sich zwischen einer Handvoll und drei Dutzend Quäker in dem gemütlichen, hüttenartigen Raum nieder. Die meiste Zeit war das ferne Brummen der Route 1 das einzige Geräusch. Eine ganze Stunde konnte vergehen, ohne dass jemand ein Wort sagte. An anderen Tagen ergriffen Leute, auf einen inneren Drang hin, das Wort. Eines Morgens stand Clyde Pettengill auf, der am Stock ging, und beklagte den kürzlichen Zwischenfall im Kernkraftwerk von Embalse in

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