Die Liebeshandlung
sie sprechen. Das Wiedersehen mit Mitchell hatte ein Gefühl in ihr aufgerührt, das sie nicht recht bestimmen konnte. Es war, als wäre sie zugleich aufgeregt und reumütig.
Eine Viertelstunde später kam Leonard schließlich aus dem Schlafzimmer und sagte, er wolle gehen. Er sah sie nicht an. Als sie meinte, sie wolle sich von Kelly verabschieden, sagte er, er werde draußen auf sie warten.
Während Madeleine zu Kelly ging und ihr noch einmal für ihre Hilfe bei der Wohnungssuche dankte, war sie sich intensiv der Tatsache bewusst, dass Mitchell noch irgendwo auf der Party herumstand. Sie wollte nicht allein mit ihm sprechen, ihr Leben war ohnehin schon kompliziert genug. Sie wollte sich ihm nicht erklären oder sich seinen Vorhaltungen stellen müssen, wollte auch nicht empfinden, was immer ein Gespräch mit ihm an Gefühlen in ihr wecken würde. Dochals sie im Gehen war, erblickte sie ihn und blieb stehen, und er kam zu ihr.
«Ich nehme an, ich sollte dir gratulieren», sagte er.
«Danke.»
«Das kam ziemlich plötzlich. Deine Heirat.»
«Das stimmt.»
«Ich nehme an, das macht dich zu Stadium eins.»
«Das nehme ich auch an.»
Mitchell trug Flipflops und Jeans mit aufgekrempelten Hosenbeinen. Seine Füße waren sehr weiß. «Hast du meinen Brief bekommen?», fragte er.
«Welchen Brief?»
«Ich habe dir einen Brief geschickt. Aus Indien. Zumindest glaube ich das. Ich war da gerade ein bisschen high. Hast du ihn wirklich nicht bekommen?»
«Nein? Was stand drin?»
Er sah sie an, als glaubte er ihr nicht. Davon wurde ihr unbehaglich.
«Ich bin mir nicht sicher, ob das jetzt noch eine Rolle spielt», sagte er.
Madeleine sah zur Wohnungstür. «Ich muss gehen», sagte sie. «Wo wohnst du?»
«Auf Schneiders Couch.»
Einen langen Augenblick standen sie da und lächelten sich an, dann streckte Madeleine plötzlich die Hand aus und rubbelte über Mitchells Kopf. «Was hast du nur mit deinen Locken gemacht!», sagte sie und stöhnte auf. Mitchell hielt den Kopf gesenkt, während sie mit der Hand über die Stoppeln auf seinem Schädel fuhr. Als sie aufhörte, hob er den Kopf wieder. Mit den geschorenen Haaren sahen seine großen Augen noch flehender aus.
«Kommst du mal wieder in die Stadt?», fragte er.
«Ich weiß nicht. Vielleicht.» Sie blickte wieder zur Tür. «Wenn ja, rufe ich dich an. Vielleicht könnten wir zusammen Mittag essen oder so.»
Es gab nichts mehr zu tun, als ihn zu umarmen. Dabei erschrak Madeleine über Mitchells beißenden Geruch. Es kam ihr beinahe zu intim vor, ihn einzuatmen.
Leonard stand rauchend im Hausflur, als sie die Wohnung verließ. Er suchte nach einer Möglichkeit, seine Zigarette loszuwerden, und da er keine fand, nahm er sie mit in den Aufzug. Als der Lift abwärtsfuhr, lehnte Madeleine sich an seine Schulter. Sie fühlte sich beschwipst. «Das hat Spaß gemacht», sagte sie. «Dir auch?»
Leonard warf seine Kippe auf den Boden und trat sie aus.
«Heißt das nein?»
Die Tür öffnete sich, und er ging wortlos durch die Eingangshalle. Madeleine folgte ihm hinaus auf den Bürgersteig, wo sie schließlich sagte: «Was ist los mit dir?»
Leonard sah sie an. «Was mit mir los ist? Was meinst du wohl? Ich bin
depressiv
, Madeleine. Ich leide an einer
Depression
.»
«Das weiß ich.»
«Wirklich? Da bin ich mir nicht so sicher. Sonst würdest nicht so was Dämliches sagen.»
«Ich habe ja nur gefragt, ob du dich amüsiert hast! Mein Gott!»
«Soll ich dir sagen, was geschieht, wenn jemand klinisch depressiv ist?», begann Leonard in seiner aufreizenden professoralen Art. «Was geschieht, ist Folgendes: Das Gehirn sendet ein Signal aus, dass es stirbt. Das depressive Gehirn sendet also dieses Signal aus, und der Körper empfängt es, und nach einer Weile meint der Körper, er stürbe ebenfalls. Und dann beginnt er herunterzufahren. Deshalb tut eineDepression
weh
, Madeleine. Deshalb
schmerzt
sie körperlich. Das Gehirn denkt, es stirbt, und folglich denkt der Körper, er stirbt, und dann registriert das Gehirn das, und sie melden sich das in einer Rückkopplungsschleife hin und her.» Leonard beugte sich zu ihr. «Ebendas geschieht in mir genau jetzt. Ebendas geschieht mir jeden Tag, jede Minute. Und deshalb antworte ich nicht, wenn du mich fragst, ob ich mich auf einer Party amüsiert habe.»
Er artikulierte übergenau, aber sein Gehirn starb. Madeleine versuchte zu erfassen, was Leonard da sagte. Ihr war warm vom Bourbon und heiß von der Stadt. Jetzt, wo sie
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