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Die Liebeshandlung

Die Liebeshandlung

Titel: Die Liebeshandlung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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zutiefst. Leonard erforschte sie genau. Sie fühlte sich gut behandelt, wie etwas Kostbares oder unendlich Faszinierendes. Es machte sie glücklich, darüber nachzudenken, wie viel er über sie nachdachte.
    Gegen Ende April war es zur Gewohnheit geworden, dass Madeleine und Leonard jede Nacht gemeinsam verbrachten. Unter der Woche ging Madeleine, sobald sie mit ihren Kursen abends fertig war, ins Biologie-Labor, wo sie Leonard regelmäßig dabei antraf, wie er mit zwei chinesischen Masterstudenten auf Objektträger stierte. Wenn sie ihn dort endlich losgeeist hatte, musste sie ihn noch herumkriegen, bei ihr zu übernachten. Am Anfang war Leonard gern im Narragansett geblieben. Er mochte die Stuckverzierungen und den Blick aus ihrem Zimmer. Er becircte Olivia und Abby, indem er sonntagmorgens Pfannkuchen machte. Aber bald begann Leonard zu klagen, sie seien
immer
bei Madeleine und er wache
nie
in seinem eigenen Bett auf. Bei ihm zu übernachten verlangte aber von Madeleine, dass sie jeden Abend saubere Anziehsachen mitbrachte, und da Leonard es nicht mochte, wenn sie ihr Zeug in seiner Wohnung ließ (was Madeleine, ehrlich gesagt, auch nicht mochte, weil alles, was dort liegen blieb, einen muffigen Geruch annahm), musste sie ihre schmutzigen Sachen den ganzen Tag am College mit sich herumtragen. Lieber schlief sie bei sich zu Hause, wo sie ihre eigenen Dinge   – Shampoo, Haarspülung, Luffa-Schwamm – benutzen konnte und jeden Mittwoch «Frische-Betten-Tag» war. Leonard wechselte sein Bettzeug nie. Es war beunruhigend grau. Staubmäuse hingen an den Kanten der Matratze. Eines Morgens sah Madeleine mit Entsetzen eine kalligraphische Spur des Bluts, das drei Wochen zuvor aus ihr herausgesickert war, ein Fleck, den sie mit einem Küchenschwamm bearbeitet hatte, während Leonard noch schlief.
    «Du wäschst dein Bettzeug nie!», klagte sie.
    «Ich wasche es», sagte Leonard gelassen.
    «Wie oft?»
    «Wenn es schmutzig ist.»
    «Es ist immer schmutzig.»
    «Nicht jeder kann seine Wäsche jede Woche in die Reinigung bringen. Nicht jeder ist mit einem ‹Frische-Betten-Tag› groß geworden.»
    «Du brauchst nichts in die Reinigung zu bringen», sagte Madeleine unbeirrt. «Du hast im Keller eine Waschmaschine.»
    «Die benutze ich auch», sagte Leonard. «Nur nicht jeden Mittwoch. Für mich ist Schmutz nicht gleich Tod und Verwesung.»
    «Ach, aber für mich schon? Ich bin vom Tod besessen, weil ich mein Bettzeug wasche?»
    «Die eigene Einstellung zur Sauberkeit hat eine Menge mit Todesangst zu tun.»
    «Hier geht’s nicht um den Tod, Leonard. Hier geht es um Krümel im Bett. Hier geht es darum, dass dein Kissen nach Leberwurstbrot stinkt.»
    «Falsch.»
    «Das tut es aber!»
    «Falsch.»
    «Riech doch dran, Leonard!»
    «Es ist Salami. Ich mag keine Leberwurst.»
    Bis zu einem gewissen Grad war diese Art zu diskutieren komisch. Aber dann kamen Abende, an denen Madeleine vergessen hatte, Sachen zum Wechseln einzupacken, und Leonard ihr vorwarf, sie mache das extra, um ihn zu zwingen, bei ihr zu übernachten. Und als Nächstes, noch beunruhigender, kamen Abende, an denen Leonard sagte, er müsse zum Lernen nach Hause, sie sähen sich dann morgen wieder. Er begann, Nächte durchzuarbeiten. Als einer seiner Philosophieprofessoren ihm seine Hütte in den Berkshire Hills anbot, fuhr Leonard für ein ganzes regnerisches Wochenende allein dorthin, um etwas über Fichte zu schreiben, und kehrte, eine Jägerweste in leuchtendem Orange am Leib, mit einem 123   Seiten langen Typoskript zurück. Die Weste wurde seine Lieblingskleidung. Er trug sie ständig.
    Er fing an, Madeleines Sätze zu Ende zu bringen. Als wäre sie im Kopf zu träge. Als könnte er nicht abwarten, bis sie ihre Gedanken beisammenhatte. Er verdrehte, was sie sagte, schweifte zu seltsamen Horizonten ab, machte Wortspiele. Wenn sie einmal meinte, er brauche etwas Schlaf, wurde er wütend und rief sie tagelang nicht an. Und während so einer Phase begriff Madeleine erst richtig, was extreme Einsamkeit im Diskurs der Liebe bedeutete. Die Einsamkeit warextrem, weil sie nicht physisch war. Extrem, weil man sie auch im Beisein der geliebten Person empfand. Extrem, weil sie im Kopf war, dem einsamsten aller Orte.
    Je mehr Leonard wegstrebte, desto ängstlicher wurde Madeleine. Je verzweifelter sie wurde, desto mehr strebte er weg. Sie sagte sich, sie müsse gelassen bleiben. Sie ging in die Bibliothek, um sich mit ihrer Arbeit über den
marriage plot
zu befassen,

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