Die Liebeshandlung
Kloschüssel pinkeln zu hören, ja, am Ende dieser drei Tage wusste Madeleine mit Sicherheit: Sie war verliebt.
Aber das hieß nicht, dass sie es irgendjemandem sagen musste. Schon gar nicht Leonard.
Leonard Bankhead hatte eine billige Einzimmerwohnung im zweiten Stock eines Studentenhauses. Die Flure waren voller Fahrräder und Werbesendungen. An den Türen seiner Mitbewohner klebten Sticker: ein fluoreszierendes Marihuanablatt, eine Siebdruck-Blondine. Nur Leonards Tür war außen genauso kahl wie seine Wohnung innen. Mitten im Zimmer lag eine breite Matratze neben einem Milchkasten aus Plastik, der als Untersatz für eine Leselampe diente. Es gab keinen Schreibtisch, kein Bücherregal, nicht einmal einen gewöhnlichen Tisch, nur die widerliche Couch, vor der auf einem weiteren Milchkasten die Schreibmaschine stand. An den Wänden war nichts außer ein paar Streifen Abdeckband und, in einer Ecke, einem kleinen, mit Bleistift gezeichneten Porträt von Leonard. Es zeigte ihn als George Washington, mit Dreispitz auf dem Kopf, schutzsuchend unter einer warmen Decke in Valley Forge. Darunter stand: «Geh du nur. Ich mag es hier.»
Madeleine fand die Handschrift eher weiblich.
In derselben Ecke verkümmerte ein Ficus. Gelegentlich, wenn Leonard daran dachte, stellte er ihn in die Sonne. Madeleine, der das Bäumchen leidtat, fing an, es zu gießen,bis sie eines Tages merkte, dass Leonard sie mit argwöhnisch zusammengekniffenen Augen dabei beobachtete.
«Was ist?», fragte sie.
«Nichts.»
«Sag schon. Was ist?»
«Du gießt meinen Baum.»
«Die Erde ist trocken.»
«Du kümmerst dich um meinen Baum.»
Danach ließ sie es bleiben.
Es gab eine winzige Küche, in der Leonard seine tägliche Dreieinhalb-Liter-Ration Kaffee kochte und wieder aufwärmte. Ein großer, fettiger Wok stand auf dem Herd. Aber das Äußerste, was Leonard im Hinblick auf die Zubereitung eines Essens tat, war Grape-Nuts in den Wok zu schütten. Mit Rosinen. Rosinen deckten seinen Obstbedarf.
Die Wohnung hatte eine Botschaft. Die Botschaft lautete: Ich bin ein Waisenkind. Abby und Olivia fragten Madeleine, was sie und Leonard miteinander machten, und Madeleine wusste nie eine Antwort. Sie
machten
nichts. Madeleine kam in seine Wohnung, sie legten sich auf die Matratze, und Leonard fragte sie, wie es ihr ging, wollte das wirklich wissen. Was sie machten? Madeleine redete; er hörte zu; dann redete er, und sie hörte zu. Noch nie hatte sie jemanden gekannt, und erst recht keinen Typen, der so empfänglich war, der alles in sich aufnahm. Sie hatte den Verdacht, dass Leonards therapeutenhaftes Verhalten von Jahren eigener Erfahrung mit Psychotherapien herrührte, und obwohl es zu ihren Grundsätzen gehörte, sich nie mit jemandem einzulassen, der zu Therapeuten ging, begann sie dieses Tabu zu überdenken. Früher, zu Hause, hatten sie und ihre Schwester einen Ausdruck für ernste Herzensgespräche gehabt. Sie nannten es «tiefbohren». Wenn ein Junge sich näherte, währendsie so ein Gespräch führten, blickten die Mädchen auf und warnten: «Wir bohren tief!» Das reichte, damit der Junge sich zurückzog. Bis es vorbei, die Bohrung abgeschlossen war.
Verabredungen mit Leonard waren wie ständige Tiefbohrungen. Wann immer Madeleine mit ihm zusammen war, schenkte er ihr seine volle Aufmerksamkeit. Er starrte ihr nicht in die Augen und erstickte sie damit, wie Billy es getan hatte, machte aber deutlich, dass er für sie da war. Er gab selten Ratschläge. Hörte nur zu und murmelte bestätigend.
Es kommt oft vor, dass jemand sich in seinen Analytiker verliebt, oder? Das nennt sich Übertragung und sollte vermieden werden. Aber was, wenn man schon mit seinem Analytiker geschlafen hat? Was, wenn seine Couch von vornherein ein Bett war?
Außerdem war das Tiefbohren nicht immer tiefsinnig. Leonard war witzig. Er erzählte mit tonloser Stimme komische Geschichten. Sein Kopf sank zwischen die Schultern, seine Augen füllten sich mit Wehmut, und seine Sätze spulten sich ab: «Hab ich dir schon mal erzählt, dass ich ein Instrument spiele? In dem Sommer, als meine Eltern sich scheiden ließen, haben sie mich zu meinen Großeltern nach Buffalo geschickt. Die Leute nebenan, die Bruveris, waren Letten. Und sie spielten beide Kokle. Weißt du, was das ist, eine Kokle? Ganz was Ähnliches wie eine Zither, nur eben eine lettische. Jedenfalls hörte ich Mr. und Mrs. Bruveris immer im Garten nebenan Kokle spielen. Es waren wundersame Klänge. Irgendwie
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