Die Liebeshandlung
wild und überdreht, und dann wieder reinste Melancholie. Kokles sind die Manisch-Depressiven in der Familie der Saiteninstrumente. Wie auch immer, ich langweilte mich zu Tode in diesem Sommer. Ich war sechzehn. Eins sechsundachtzig groß. NeunundsechzigKilo schwer. Und ein großer Kiffer. Ich zog mir die Joints in meinem Zimmer rein und blies den Rauch aus dem Fenster, und dann ging ich auf die Veranda und lauschte, wie die Bruveris drüben spielten. Manchmal kamen Leute dazu. Andere Kokle-Spieler. Sie stellten Gartenstühle auf, setzten sich draußen zusammen und fingen an zu spielen. Es war ein Orchester! Ein Kokle-Orchester. Dann, eines Tages, sahen sie, dass ich ihnen zuschaute, und luden mich nach drüben ein. Sie gaben mir Kartoffelsalat und ein Traubeneis am Stiel, und ich fragte Mr. Bruveris, wie man Kokle spielt, und er brachte es mir bei. Jeden Tag ging ich zu ihnen rüber. Sie hatten noch eine alte Kokle, die sie mir leihen konnten. Ich habe fünf, sechs Stunden am Tag geübt. War wie versessen drauf. Als der Sommer um war und ich wieder fahren musste, gaben die Bruveris mir die Kokle. Als Geschenk. Ich nahm sie im Flugzeug mit. Bekam einen Extraplatz für sie, als wäre ich Rostropowitsch. Mein Vater war inzwischen zu Hause ausgezogen. So blieben nur meine Schwester, meine Mutter und ich. Und ich übte weiter. Ich wurde so gut, dass ich bei einer Kapelle mitmachen konnte. Wir spielten auf Volksfesten und orthodoxen Hochzeiten. Alle hatten diese Trachten an, bestickte Westen, Puffärmel, kniehohe Stiefel. Ich und die Erwachsenen. Die meisten waren Letten, aber einige auch Russen. Unsere große Nummer hieß ‹Otschi Tschornia›. Das war das Einzige, was mich in der Highschool gerettet hat. Die Kokle.»
«Spielst du noch?»
«Zum Teufel, nein. Im Ernst? Kokle?»
Wenn sie Leonard so reden hörte, kam Madeleine sich durch ihre glückliche Kindheit regelrecht verarmt vor. Sie fragte sich nie, weshalb sie etwas tat oder wie sich der Einfluss ihrer Eltern auf ihre Persönlichkeit ausgewirkt hatte.Das häusliche Glück hatte ihre Beobachtungsgabe eingelullt. Leonard dagegen merkte jede Kleinigkeit. Als sie ein Wochenende auf Cape Cod verbrachten (auch um das Pilgrim-Lake-Laboratorium zu besuchen, bei dem Leonard sich um ein Forschungsstipendium beworben hatte) und danach zurückfuhren, sagte Leonard zum Beispiel: «Wie machst du das eigentlich? Hältst du es einfach ein?»
«Was?»
«Du hältst es einfach ein. Zwei ganze Tage lang. Bis du nach Hause kommst.»
Als ihr dämmerte, was er meinte, sagte sie: «Das kann doch nicht wahr sein!»
«Du hast die ganze Zeit noch nie, kein einziges Mal, in meiner Gegenwart gekackt.»
«In deiner Gegenwart?»
«Ja, wenn ich da bin. Oder in der Nähe.»
«Und, was ist dabei?»
«Was dabei ist? Nichts. Wenn du sagst, dass du wegen der Kurse am nächsten Morgen lieber bei dir schläfst und dann nach Hause gehst und kackst, ist das verständlich. Aber wenn wir zwei, fast drei Tage lang zusammen sind, Surf ’n’ Turf essen und du nicht ein einziges Mal kacken gehst, kann ich daraus nur schließen, dass du mehr als ein bisschen anal bist.»
«Na und? Es ist eben peinlich!», sagte Madeleine. «Okay? Ich finde es peinlich.»
Leonard starrte sie ausdruckslos an und sagte: «Stört es dich, wenn
ich
kacken gehe?»
«Müssen wir über so was reden? Ist doch eklig.»
«Ich glaube schon, dass wir über so was reden müssen. Weil du in meiner Gesellschaft offenbar nicht sehr entspannt bist, obwohl ich – dachte ich jedenfalls – dein Freund bin, was wiederum bedeutet – oder bedeuten sollte –, dass duin meinem Beisein entspannter sein kannst als bei irgendjemand sonst. Leonard ist gleich maximale Entspannung.»
Reden war eigentlich nicht Männersache. Es war nicht Männersache, Frauen zum Reden zu bringen. Aber der da tat es; dieser Mann redete. Er hatte auch gesagt, er sei «ihr Freund». Durch ihn war es jetzt offiziell.
«Wenn es dich glücklich macht, werde ich versuchen, entspannter zu sein», sagte Madeleine. «Aber in puncto Exkretion solltest du deine Hoffnungen begraben.»
«Es ist ja nicht für mich», sagte Leonard. «Es ist für Mister Grimmdarm. Für Mister Duodenum.»
Obwohl diese Art von Amateurtherapie nicht besonders anschlug (nach diesem letzten Gespräch beispielsweise hatte Madeleine noch mehr, nicht weniger Schwierigkeiten, ihr großes Geschäft zu verrichten, wenn Leonard auch nur irgendwo im Dunstkreis war), berührte sie Madeleine
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