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Die Liebeshandlung

Die Liebeshandlung

Titel: Die Liebeshandlung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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aber die zu Sexphantasien anregende Atmosphäre – der Augenkontakt im Lesesaal, die lockenden Regale – erfüllte sie mit unwiderstehlicher Sehnsucht, Leonard zu sehen. Und so, gegen ihren Willen, begannen ihre Füße sie durch die Dunkelheit über den Campus zum Fachbereich Biologie zu tragen. Bis zum letzten Moment hatte Madeleine die verrückte Hoffnung, dieser Ausdruck von Schwäche werde sich in Wirklichkeit als Stärke erweisen. Es sei eine brillante Strategie, weil nichts Strategisches daran sei. Keine Spielchen, die dahintersteckten, alles reine Ehrlichkeit. Wie sollte Leonard, angesichts solcher Ehrlichkeit, nicht davon berührt werden? Sie war beinahe glücklich, als sie sich dem Labortisch näherte und Leonard von hinten auf die Schulter tippte, und ihr Glücksgefühl dauerte an, bis er sich mit einem nicht liebenden, sondern verärgerten Blick umdrehte.
    Es half nichts, dass es Frühling war. Jeden Tag schienen die Menschen etwas weniger bekleidet. Die auf dem grünen Rasen erblühenden Magnolien wirkten positiv entflammt. Sie verströmten einen Duft, der durch die Fenster von Semiotik 211 wehte. Die Magnolien hatten Roland Barthes nicht gelesen. Sie dachten nicht, dass Liebe ein Geisteszustand sei; die Magnolien bestanden darauf, sie sei naturgegeben, immerwährend.
    An einem schönen, warmen Maitag nahm Madeleine eine Dusche, rasierte sich extra sorgfältig die Beine und zog ihrerstes Frühlingskleid an: ein apfelgrünes Babydoll, kurz und garniert mit einem Krägelchen. Dazu trug sie Buster Browns, in Creme und Rost, ohne Socken. Ihre nackten Beine, gestrafft vom winterlichen Squash-Spielen, waren blass, aber glatt. Sie behielt ihre Brille auf, ließ das Haar offen und machte sich auf den Weg zu Leonards Wohnung an der Planet Street. Unterwegs kaufte sie ein großes Stück Käse, Stoned-Wheat-Cracker und eine Flasche Valpolicella. Als sie von der Benefit zur South Main Street hinunterlief, spürte sie die warme Brise zwischen ihren Schenkeln. Die Eingangstür von Leonards Studentenhaus wurde von einem Backstein aufgehalten, also ging sie direkt hinauf zu seiner Wohnung und klopfte. Leonard öffnete die Tür. Er sah aus, als hätte er geschlafen.
    «Schöööönes Kleid», sagte er.
    Nie schafften sie es in den Park. Sie picknickten einer auf dem anderen. Während Leonard sie zur Matratze zog, ließ Madeleine ihre Einkäufe fallen, in der Hoffnung, dass die Weinflasche nicht zerbrach. Sie streifte sich ihr Kleid über den Kopf. Bald waren sie nackt, plünderten, so fühlte es sich an, einen großen Korb voller Leckereien. Madeleine lag auf dem Bauch, auf der Seite, auf dem Rücken, knabberte an all den süßen Sachen, den wohlriechenden Fruchtbonbons, den fleischigen Schlegeln, vernaschte genauso die würzigeren Gaben, Plätzchen mit Anisgeschmack, schrumplige Trüffeln, löffelweise salzige Oliventapenade. In ihrem ganzen Leben war sie noch nie so emsig gewesen. Zugleich fühlte sie sich seltsam abgehoben, nicht wie ihr normales, aufgeräumtes Ich, sondern zu einer großen protoplasmischen, ekstatischen Einheit mit Leonard verschmolzen. Sie dachte eigentlich, sie wäre früher schon verliebt gewesen. Sie
wusste
, sie hatte schon Sex gehabt. Aber das heiße Jugendgefummel, die unbeholfenenRücksitzknutschereien, die bedeutungsvollen, absichtsreichen Sommernächte mit ihrem Highschool-Freund Jim McManus, sogar die zärtlichen Umarmungen mit Billy, der darauf bestand, dass sie sich beim Höhepunkt in die Augen sahen – nichts davon hatte sie auf das hier vorbereitet, einen so schmetternden Überfall alles verzehrender Lust.
    Leonard küsste sie. Als sie es nicht mehr aushielt, packte sie ihn an den Ohren. Sie zog Leonards Kopf hoch und hielt ihn fest, damit er den Beweis dessen sah, was sie fühlte (sie weinte jetzt). Mit heiserer Stimme, in der irgendetwas Angeknackstes, eine Ahnung von Gefahr mitschwang, sagte Madeleine: «Ich liebe dich.»
    Leonard starrte sie an. Seine Augenbrauen zuckten. Plötzlich rollte er sich seitwärts von der Matratze. Er stand auf und ging nackt durchs Zimmer, bückte sich über ihre Tasche und nahm die
Fragmente einer Sprache der Liebe
aus dem Seitenfach, in dem Madeleine das Buch mit sich herumtrug. Er blätterte darin, bis er gefunden hatte, was er suchte. Dann kehrte er ans Bett zurück und gab es ihr.
     
    Ich liebe dich
    Je-t’aime
/ Ich-liebe-dich
     
    Als sie diese Worte las, wurde Madeleine von Glück durchflutet. Sie blickte zu Leonard auf, lächelte. Mit dem

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