Die Liebeshandlung
Sünder.
Herr Jesus Christus, hab Erbarmen mit mir Sünder.
Mitchell hatte sich in den letzten zwei Wochen angewöhnt, das Jesusgebet zu sprechen. Er machte das nicht nur, weil Franny Glass ebendieses Gebet in Salingers
Franny und Zooey
unablässig auf den Lippen führte (obwohl das sicher eine Empfehlung war). Mitchell konnte Frannys religiöse Verzweiflung, ihren Rückzug vom Leben, ihre Verachtung für «Institutsmenschen» gut verstehen. Er fand ihren buchlangen Nervenzusammenbruch, während dessen sie sich kein einziges Mal von der Couch wegbewegte, nicht nur aufwühlend und dramatisch, sondern auf eine Weise kathartisch, wie Dostojewski es
angeblich
sein sollte, für ihn aber nicht war. (Tolstoi stand auf einem anderen Blatt.) Trotzdem, obwohl Mitchell eine ähnliche Sinnkrise durchmachte, hatte er sich fürs Ausprobieren des Jesusgebets erst entschieden,nachdem er es auch in einem Buch mit dem Titel
Die orthodoxe Kirche
gelesen hatte. Das Jesusgebet, so stellte sich heraus, gehörte zu jener religiösen Tradition, in deren Schoß Mitchell obskurerweise vor zweiundzwanzig Jahren getauft worden war. Aus diesem Grund fühlte er sich berechtigt, es zu sprechen. Und das hatte er nun einfach ausprobiert, unterwegs auf dem Campus oder bei Quäker-Versammlungen im Meeting House neben der Moses Brown School, oder in Augenblicken wie diesem, wenn die innere Ruhe, die er sich mühsam erkämpft hatte, bröckelte und stockte.
Mitchell mochte das Singsanghafte an dem Gebet. Franny sagte, du brauchst nicht mal drüber nachzudenken, was du sagst; du wiederholst das Gebet einfach so lange, bis das Herz übernimmt und es für dich wiederholt. Das war wichtig, denn sobald Mitchell innehielt und über den Wortlaut des Jesusgebets nachdachte, mochte er ihn nicht besonders. «Herr Jesus» war ein schwieriger Einstieg. Es klang irgendwie nach Bible Belt. Ähnlich das flehende «hab Erbarmen», bei dem man sich elend tief unten, ja sklavenhaft vorkam. Und wenn Mitchell das «Herr Jesus Christus, hab Erbarmen mit mir» trotz allem überwunden hatte, kam der dickste Brocken hinterher, «Sünder», der finale Stolperstein. Das war tatsächlich hart. Den Gospels zufolge, die Mitchell nicht wörtlich nahm, musste man sterben, um wiedergeboren zu werden. Den Mystikern zufolge, die er so wörtlich nahm, wie ihre metaphorische Sprache es erlaubte, musste das Ich im göttlichen Wesen aufgehen. Mitchell mochte die Vorstellung, im göttlichen Wesen aufzugehen. Aber es war hart, sein Ich abzutöten, wenn man so vieles daran gut fand.
Er murmelte das Gebet noch eine weitere Minute lang, bis er ruhiger geworden war. Dann stand er auf und verließ das Café. Gegenüber waren die Seiteneingänge der Kirchejetzt geöffnet. Der Organist spielte sich warm, die Musik flutete heraus, über das Gras. Mitchell blickte die Straße hinunter in die Richtung, in die Madeleine verschwunden war. Als er keine Spur mehr von ihr sah, bog er in die Benefit Street und machte sich auf den Rückweg zu seiner Wohnung.
Mitchells Beziehung zu Madeleine Hanna – diese lange, erwartungsvolle, sporadisch vielversprechende, aber frustrierende Beziehung – hatte auf einer Togaparty in der Orientierungsphase am Anfang des ersten Semesters begonnen. Es war die Art von Dingen, die er instinktiv hasste: eine Fassbier-Party nach dem Muster eines Hollywoodfilms, der gerade «in» war – eine Kapitulation vor dem Mainstream. Mitchell war nicht aufs College gegangen, um sich zu benehmen wie John Belushi. Er hatte
Ich glaub’, mich tritt ein Pferd
noch nicht einmal
gesehen
. (Er war ein Altman-Fan.) Die Alternative wäre allerdings gewesen, allein auf seinem Zimmer zu hocken, und so war er schließlich, um seinen Widerstandsgeist kundzutun, ohne die Party direkt zu boykottieren, in normaler Kleidung hingegangen. Aber kaum hatte er den Gemeinschaftsraum unten im Keller betreten, wusste er, dass es ein Fehler gewesen war. Er hatte gedacht, ohne Toga würde man glauben, er sei zu cool für solche infantilen Festivitäten, aber als er in der Ecke stand und schäumendes Bier aus einem Plastikbecher trank, fühlte er sich wieder genauso als Fremdköper wie auf anderen Partys mit lauter umschwärmten Leuten.
An diesem Punkt war er angelangt, als er Madeleine bemerkte. Sie war mitten im Getümmel, tanzte mit jemandem, in dem Mitchell einen der Wohnheimbetreuer erkannte. Im Unterschied zu den meisten anderen Mädchen, die in ihren Togen plump aussahen, hatte Madeleine sich eine
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