Die Liebeshandlung
hatte, dass Madeleine ihre Brille trug – ob sie sich in seiner Gegenwart ungezwungen fühlte oder einfach keine Mühe gab, für ihn bestmöglich auszusehen. Sobald sie im Zug waren, mitten im Ansturm der Thanksgiving-Reisenden, war das so oder so unmöglich zu beurteilen. Nachdem sie zwei Plätze nebeneinander gefunden hatten, nahm Madeleine die Brille ab, hielt sie im Schoß. Als der Zug Providence verließ, setzte sie sie wieder auf, um die Szenerie draußen zu verfolgen, riss sie sich dann aber erneut von der Nase und steckte sie in ihre Tasche. (Deshalb waren die Gläser in einem so schlechten Zustand: Das Etui gab es schon lange nicht mehr.)
Die Fahrt dauerte fünf Stunden. Von Mitchell aus hätte sie ruhig fünf Tage dauern können. Es war aufregend, dass Madeleine auf dem Sitz neben ihm buchstäblich gefangen war. Sie hatte Band eins von Anthony Powells
Ein Tanz zur Musik der Zeit
dabei und, offenbar eine sündige Reisegewohnheit, eine dicke
Vogue.
Mitchell starrte auf die Lagerhallen und Karosseriewerkstätten von Cranston, ehe er seinen
Finnegans Wake
herauszog.
«Das liest du doch bestimmt nicht», sagte Madeleine.
«Doch, ich lese es.»
«Nie im Leben!»
«Es ist über einen Fluss», sagte Mitchell. «In Irland.»
Der Zug fuhr die Küste von Rhode Island entlang und nach Connecticut hinein. Dann und wann tauchte der Ozean auf, oder Sumpfland, und plötzlich kamen sie an der hässlichen Kehrseite einer Industriestadt vorbei. In New Haven hielt der Zug für einen Lokwechsel, bevor er seine Fahrt zurNew Yorker Grand Central fortsetzte. Nachdem sie mit der Subway zur Penn Station gelangt waren, führte Madeleine Mitchell die Treppe hinunter zu einer anderen Gleisanlage, wo sie den Zug nach New Jersey erreichten. Abends um kurz vor acht kamen sie in Prettybrook an.
Das Haus der Hannas war ein hundertjähriger Tudor-Bau mit ahornblättrigen Platanen und absterbenden Hemlocktannen vor dem Eingang. Innen war alles höchst geschmackvoll und halb zerfallen. Die Orientteppiche hatten Flecken. Das ziegelrote Linoleum in der Küche war dreißig Jahre alt. Als Mitchell die Toilette benutzte, fiel ihm auf, dass der Papierspender mit Tesafilm repariert war. Desgleichen die abblätternde Tapete im Flur. Mitchell hatte heruntergekommene Eleganz schon anderswo gesehen, aber das hier war WAS P-Sparsamkeitsmentalität in reinster Form. Der Putz hing beunruhigend von den Decken. Rudimentäre Alarmanlagen entsprossen den Wänden. Die Elektroleitungen verursachten bei jedem Steckerziehen kleine Stichflammen in den Buchsen.
Mitchell konnte gut mit Eltern. Eltern waren seine Spezialität. Innerhalb einer Stunde nach der Ankunft am Mittwochabend hatte er sich als Liebling etabliert. Er kannte die Texte der Cole-Porter-Songs, die Alton auf dem «HiFi» spielte. Er war einverstanden, dass Alton mit lauter Stimme Abschnitte aus Kingsley Amis’
Anständig trinken
vorlas, und schien sie genauso komisch zu finden wie er. Beim Essen redete Mitchell mit Phyllida über Sandra Day O’Connor und mit Alton über Abscam, eine FB I-Operation . Zum krönenden Abschluss legte Mitchell später am Abend eine umwerfende Scrabble-Partie hin.
«Ich wusste gar nicht, dass
Groszy
überhaupt ein Wort ist», sagte Phyllida schwer beeindruckt.
«So heißt eine polnische Münze. Hundert Groszy sind einen Złoty wert.»
«Sind alle deine neuen Freunde auf dem College so weltläufig, Maddy?», sagte Alton.
Als Mitchell zu Madeleine hinüberblickte, lächelte sie ihn an. Und da war es passiert. Madeleine trug einen Morgenmantel. Sie hatte ihre Brille auf. Sie sah heimelig und zugleich sexy aus, nicht nur eine, sondern zehn Nummern zu groß für ihn und trotzdem in Reichweite, einfach aufgrund dessen, wie gut er schon jetzt in ihre Familie zu passen schien und was für einen perfekten Schwiegersohn er abgeben würde. Aus all diesen Gründen dachte Mitchell plötzlich: «Ich werde dieses Mädchen heiraten!» Die Erkenntnis durchfuhr ihn wie elektrischer Strom, ein Gefühl von Schicksalhaftigkeit.
«Fremdwörter sind nicht erlaubt», sagte Madeleine.
Er verbrachte den Thanksgiving-Vormittag, indem er für Phyllida Stühle schleppte, mit Alton Bloody Marys trank und Pool spielte. Der Billardtisch hatte geflochtene Ledertaschen statt eines Rücklaufsystems. Während Alton einen Stoß anpeilte, sagte er: «Vor ein paar Jahren habe ich gemerkt, dass der Tisch nicht eben war. Der Mann, den die Firma schickte, meinte, er sei verzogen, wahrscheinlich
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