Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Liebeshandlung

Die Liebeshandlung

Titel: Die Liebeshandlung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
Vom Netzwerk:
Zeit immer nur mit ihm zusammen sein. Ihre eigenen Prioritäten hatte sie aus dem Blick verloren und war zu einem Klotz am Bein geworden.
    Nur eines blieb ihr von ihrer Beziehung mit Leonard:das Buch, das sie ihm an den Kopf geworfen hatte. Bevor sie an jenem Tag aus seiner Wohnung gestürmt war – während er, in herrschaftlicher Nacktheit auf dem Bett, in aller Ruhe ihren Namen wiederholte, um ihr zu verdeutlichen, dass sie überreagiere   –, war Madeleines Blick auf das Buch gefallen, das wie ein gegen die Fensterscheibe geprallter Vogel offen auf dem Boden lag. Es aufzuheben konnte Leonards Standpunkt nur erhärten: Sie sei ungesund auf die
Sprache der Liebe
fixiert, ja geradezu davon besessen; dieses Buch habe ihre Phantasien über die Liebe, statt sie zu zerstreuen, noch verstärkt; und sie sei, wie aus alledem ersichtlich, nicht bloß gefühlsduselig, sondern ihr fehle obendrein der kritische Literaturverstand.
    Andererseits war es unmöglich, das Buch dort, auf dem Fußboden, liegen zu lassen – griffbereit für Leonard, der später würde sehen können, welche Stellen sie markiert oder was sie an den Rand geschrieben hatte (unter anderem, auf Seite 214, in einem Kapitel mit der Überschrift «Im sanften Frieden deiner Arme», ein einzelnes, exklamatorisches «Leonard!»). Also hatte sich Madeleine, als sie ihre Tasche nahm, mit einer einzigen fließenden Bewegung auch den Barthes geschnappt, ohne einen Seitenblick zu wagen, ob Leonard es merkte, und fünf Sekunden später die Tür hinter sich zugeknallt.
    Sie war froh, dass sie das Buch mitgenommen hatte. Jetzt, in ihrer düsteren Verfassung, war die elegante Prosa von Roland Barthes ihr einziger Trost. Durch die Trennung von Leonard hatte die
Sprache der Liebe
nicht an Bedeutung verloren. In der Tat gab es mehr Kapitel über Liebesleid als über Glück. Eines trug die Überschrift «Abhängigkeit». Ein anderes «Selbstmord». Noch ein anderes hieß «Lob der Tränen».
Besondere Neigung des liebenden Subjekts zum Weinen   … Die geringste liebende Gefühlsregung, aus Glück oder Kummer, versetzt
Werther in Tränen. Werther weint häufig, sehr häufig und ausgiebig. Weint in Werther der Liebende oder der Romantiker?
    Gute Frage. Seit mit Leonard Schluss war, hatte Madeleine mehr oder weniger die ganze Zeit geweint. Sie weinte sich abends in den Schlaf. Sie weinte morgens beim Zähneputzen. Sie riss sich mit aller Kraft zusammen, um nicht vor ihren Mitbewohnerinnen zu weinen, und meistens gelang es ihr.
    Die
Sprache der Liebe
war das ideale Heilmittel für Liebeskranke. Ein Reparaturhandbuch fürs Herz, mit nur einem Werkzeug, dem Gehirn. Wenn man seinen Kopf gebrauchte, wenn man sich bewusstmachte, wie Liebe kulturell konstruiert war, und man begann, die eigenen Symptome als rein mentale zu begreifen, wenn man anerkannte, dass «Verliebtsein» bloß eine Idee war, dann konnte man sich von dessen Tyrannei befreien. Madeleine wusste das alles. Das Problem war nur, es funktionierte nicht. Sie konnte den ganzen Tag lang Barthes’ Dekonstruktionen der Liebe lesen, ohne dass ihre Liebe zu Leonard auch nur das winzigste bisschen abnahm. Je mehr sie in der
Sprache der Liebe
las, desto verliebter fühlte sie sich. Sie erkannte sich auf jeder Seite wieder. Sie identifizierte sich mit Barthes’ schattenhaftem «Ich». Sie wollte nicht von ihren Gefühlen befreit werden, sondern bestätigt sehen, wie bedeutungsvoll sie waren. Dieses Buch war an Liebende gerichtet, ein Buch übers Lieben, in dem das Wort
Liebe
nahezu in jedem Satz vorkam. Und oh, wie sie es liebte!
    In der Welt draußen ging das Semester und damit auch die Collegezeit rasend schnell auf ihr Ende zu. Madeleines Mitbewohnerinnen, die beide Kunstgeschichte studierten, hatten schon einen Einstiegsjob in New York gefunden, Olivia bei Sotheby’s, Abby in einer Galerie in SoHo. Erstaunlichviele von ihren Freunden und Bekannten führten Campus-Vorgespräche mit Investmentbanken. Andere hatten Stipendien oder Förderungen bewilligt bekommen oder würden nach L.   A. gehen, um beim Fernsehen zu arbeiten.
    Das Äußerste, was Madeleine an Zukunftvorbereitendem zustande brachte, war, sich einmal am Tag aus dem Bett zu schälen und in ihr Postfach zu gucken. Im April war sie von Arbeit und Liebe zu abgelenkt gewesen, um zu merken, dass der Fünfzehnte ohne einen Brief von Yale gekommen und gegangen war. Als sie es dann doch merkte, war sie wegen der Trennung zu deprimiert, um eine weitere Ablehnung zu

Weitere Kostenlose Bücher