Die Liebeshandlung
Wieder war sie nicht da. Auf ihre Tafel hatte jemand, mit einem Pfeil zu seinem Joyce-Zitat, geschrieben: «Wer ist der Perversling?»
Mitchell wischte das aus. Er schrieb: «Maddy, ruf mich an. Mitchell.» Dann wischte er auch das aus und schrieb: «Bitte um ein Gespräch. M.»
Wieder zu Hause, musterte Mitchell sich im Spiegel. Er drehte sich zur Seite und bemühte sich, sein Profil zu sehen. Er tat, als spräche er auf einer Party mit jemandem, um herauszufinden, wie er wirklich war.
Nach einer weiteren Woche ohne Nachricht von Madeleine ließ er es bleiben, bei ihr anzurufen oder vorbeizugehen. Er stürzte sich in sein Studium, verbrachte heroisch lange Stunden damit, an seinen Englisch-Hausarbeiten zu feilen oder Vergils kühne metaphorische Vergleiche von Weinbergen und Frauen zu übersetzen. Als Madeleine ihm schließlich zufällig über den Weg lief, war sie genauso nett wie immer. Den Rest des Jahres verloren sie sich nicht mehr aus den Augen, gingen zusammen zu Lesungen und gelegentlich zum Abendessen ins Ratty, zu zweit oder mit anderen. Als Madeleines Eltern im Frühjahr zu Besuch kamen, lud Madeleine ihn ein, gemeinsam mit ihnen im Bluepoint Grill zu essen. Aber er kehrte nie in das Haus in Prettybrook zurück, nie wieder machte er in dem Kamin Feuer oder trankGin Tonic auf der Veranda mit Blick über den Garten. Nach und nach gelang es ihm, sich sein eigenes soziales Leben am College aufzubauen, und Madeleine entfernte sich, obwohl sie Freunde blieben, in ihres. Aber seine Ahnung vergaß er nie. Eines Abends im Oktober darauf, beinahe ein Jahr nachdem Mitchell in Prettybrook gewesen war, sah er Madeleine im purpurnen Dämmerlicht über den Campus gehen. Sie war in Begleitung eines blondgelockten Typen namens Billy Bainbridge, den Mitchell aus seinem Erstsemester-Wohnheim kannte. Billy besuchte Kurse über Frauenforschung und bezeichnete sich als Feministen. Momentan hatte er seine Hand gefühlvoll in der Gesäßtasche von Madeleines Jeans. Sie hatte ihre Hand in der Gesäßtasche seiner Jeans. So schlenderten sie einher, jeder griff sich eine Handvoll vom anderen. In Madeleines Gesicht stand eine Dummheit, die Mitchell noch nie an ihr gesehen hatte. Es war die Dummheit aller normalen Leute. Die Dummheit der Reichen und Schönen, derer, die im Leben bekommen, was sie bekommen wollen, und darum unscheinbar bleiben.
***
Im
Phaidros
von Plato beruhen die beiden Reden des Sophisten Lysias und des ersten Sokrates (bevor er zu seiner Palinodie, seinem Widerruf des Gesagten ansetzt) auf folgendem Prinzip: dass der Liebhaber dem Geliebten (durch Plumpheit) unerträglich wird.
In den Wochen nach der Trennung von Leonard lag Madeleine die meiste Zeit im Narragansett auf dem Bett. Sie schleppte sich in ihre letzten Kurse vor dem Collegeabschluss. Sie verlor fast jeden Appetit. Nachts rüttelte eine unsichtbareHand sie alle paar Stunden wach. Der Kummer war physiologisch, eine Störung im Blut. Manchmal verging eine ganze Minute in namenlosem Grauen – mit der tickenden Uhr am Bett, dem blauen Mondlicht, das die Fensterscheibe wie mit Leim überzog –, bevor sie sich an die knallharte Tatsache erinnerte, die es ausgelöst hatte.
Sie rechnete damit, dass Leonard anrufen würde. Sie phantasierte ihn herbei, stellte sich vor, wie er in der Wohnungstür erschien und sie bat zurückzukommen. Als nichts davon geschah, verzweifelte sie und wählte seine Nummer. Oft war die Leitung besetzt. Leonard funktionierte also prächtig ohne sie. Er rief Leute an, andere Mädchen wahrscheinlich. Manchmal lauschte Madeleine dem Besetztzeichen so lange, bis sie glaubte, irgendwo dahinter Leonards Stimme zu hören, als wäre er nur auf der anderen Seite des Geräuschs. Wenn sie hörte, dass die Leitung frei war und es bei ihm klingelte, freute sie sich bei dem Gedanken, er werde jede Sekunde abnehmen, aber dann geriet sie in Panik und knallte den Hörer auf, wobei sie nachträglich jedes Mal meinte, im letzten Moment sein «Hallo» gehört zu haben. Zwischen den Anrufen lag sie, ans Anrufen denkend, auf der Seite.
Die Liebe hatte sie unerträglich werden lassen, plump. Der Länge nach auf ihrem Bett, aber immer darauf bedacht, dass ihre Schuhe die Laken nicht berührten (in dieser Hinsicht blieb Madeleine trotz ihres Elends pingelig), führte sie sich all die Dinge vor Augen, mit denen sie Leonard vertrieben hatte. Sie war zu bedürftig gewesen, war ihm wie ein kleines Mädchen auf den Schoß gekrochen, wollte die ganze
Weitere Kostenlose Bücher