Die Liebeshandlung
Begehren zeitigte keine Erfüllung, sondern nur vorübergehende Sättigung, bis die nächste Versuchung des Weges kam. Und auch
das
nur, wenn man das Glück hatte zu bekommen, was man haben wollte. Wenn nicht, verbrachte man sein Leben in unerfüllter Sehnsucht.
Wie lange hatte er nicht insgeheim gehofft, MadeleineHanna zu heiraten? Aber wie viel von seinem Wunsch, Madeleine zu heiraten, beruhte darauf, dass er sie wirklich und wahrhaftig als Menschen mochte, und wie viel auf dem Verlangen, sie zu besitzen und dadurch sein Ego zu erfreuen?
Vielleicht war es gar nicht so toll, sein Ideal zu heiraten. Wenn man sein Ideal einmal in den Armen hielt, wurde es wahrscheinlich langweilig, und man wünschte sich ein anderes.
Der Troubadour sang ein Lied von Neil Young, Wort für Wort bis hin zum letzten Näseln und Wimmern, vermutlich ohne es zu verstehen. Ältere, besser gekleidete Leute spazierten zu den mit Flutlicht beleuchteten Gebäuden an beiden Ufern der Seine. Paris war ein Museum, das exakt sich selbst ausstellte.
Wäre es nicht schön, es ein für alle Mal hinter sich zu haben? Die Sehnsucht und den Sex? Mitchell konnte sich beinahe vorstellen, beides abzustreifen, hier, bei Nacht auf einer Brücke über der dahinfließenden Seine. Er blickte auf zu den erleuchteten Fenstern, die den Flussbogen säumten. Er dachte an all die Menschen, die gerade schlafen gingen, lasen oder Musik hörten, all die in einer solchen Großstadt geborgenen Existenzen, und als schwebte er im Geist empor und erhöbe sich ein klein wenig über die Dächer, bemühte er sich, das Vibrieren all dieser Millionen bebenden Seelen zu erspüren, mit ihnen mitzuschwingen. Er hatte die Nase voll vom Schmachten, Wollen, Hoffen und Verlieren.
Lange Zeit waren die Götter in engem Kontakt mit der Menschheit gewesen. Dann hatten sie sich, angewidert oder entmutigt, zurückgezogen. Aber vielleicht würden sie einmal wiederkommen, sich der umherirrenden, noch immer wissbegierigen Seele nähern.
Mitchell kehrte in sein Hotel zurück und hing eine Weile in der Empfangshalle herum, für den unwahrscheinlichen Fall, dass ein paar freundliche, Englisch sprechende Reisende auftauchten. Es kamen keine. Er ging in sein Zimmer hinauf, holte sich ein Handtuch und duschte im Gemeinschaftsbad lauwarm. Beim Tempo seiner gegenwärtigen Ausgaben würde sein Geld niemals so lange reichen, dass sie es bis nach Indien schaffen würden. Vom nächsten Tag an musste er anders leben.
Zurück im Zimmer, zog er die mausgraue Tagesdecke vom Bett und legte sich nackt hinein. Da die Nachttischlampe zu funzelig zum Lesen war, machte er den Schirm ab.
Ein Teil der Arbeit der Schwestern ist es, Sterbende auf den Straßen Kalkuttas aufzulesen und sie in ein Gebäude zu bringen, das Mutter Teresa für diesen Zweck geschenkt worden war (ein früherer Tempel, dem Kult der Göttin Kali geweiht), damit sie dort, wie sie sagt, mit dem Blick auf ein liebevolles Gesicht sterben können. Einige sterben tatsächlich; andere überleben und werden versorgt. Dieses Heim für Sterbende ist durch kleine Fenster hoch oben in den Wänden nur schwach erleuchtet, und Ken war der festen Überzeugung, daß Filmen darin ganz unmöglich sei. Wir hatten nur ein kleines Licht bei uns und konnten den Ort in der uns zur Verfügung stehenden Zeit nicht hinreichend erleuchten. Es wurde beschlossen, daß Ken dennoch einen Versuch wagen sollte, aber, um sicherzugehen, machte er zusätzlich Aufnahmen in einem Außenhof, in dem einige der Insassen in der Sonne saßen. In dem entwickelten Film war dann der innen aufgenommene Teil in ein besondersschönes, weiches Licht gebadet, während der draußen aufgenommene ziemlich blaß und undeutlich war.
Wie läßt sich das erklären? Ken hat die ganze Zeit darauf bestanden, daß das Ergebnis, technisch gesehen, unmöglich sei. Als Beweis benutzte er bei seiner nächsten Filmexpedition – in den Nahen Osten – das gleiche Material in ähnlich schwacher Beleuchtung, mit völlig negativem Ergebnis […] Mutter Teresas Heim für Sterbende fließt über von Liebe, wie man unmittelbar nach dem Eintreten spürt. Diese Liebe leuchtet wie die Heiligenscheine, die Künstler rund um die Köpfe von Heiligen gesehen und sichtbar gemacht haben […] Ich persönlich bin davon überzeugt, daß Ken das erste echte photographische Wunder aufgezeichnet hat.
Mitchell legte das Buch weg, löschte das Licht und streckte sich in dem unebenen Bett aus. Er dachte an Claire,
Weitere Kostenlose Bücher