Die Liebeshandlung
Claire. «Seien wir ruhig unoriginell.»
Unten auf der Straße legte Larry den Arm um Claire und flüsterte ihr ins Ohr. Mitchell ging hinter ihnen her.
Bei schmeichelndem Abendlicht durchquerten sie im Zickzackkurs die Innenstadt. Die Menschen in Paris sahen ohnehin gut aus; jetzt sogar noch besser.
Das Restaurant, in das Claire sie führte, inmitten der schmalen Gassen des Quartier Latin, war klein und hektisch, marokkanische Wandfliesen bedeckten die Wände. Mitchell saß dem Fenster gegenüber und beobachtete den draußen vorbeiziehenden Menschenstrom. Irgendwann ging ein Mädchen, das nach Anfang zwanzig aussah und einen Jeanne-d’Arc-Haarschnitt hatte, direkt an der Scheibe vorbei. Als Mitchell sie anschaute, tat sie etwas Verblüffendes: Sie schaute zurück. Erwiderte seinen Blick mit offen sexuellem Interesse. Nicht, als
wollte
sie unbedingt Sex mit ihm haben. Nur als wüsste sie es, an diesem spätsommerlichen Abend, erfreut zu würdigen, dass er ein Mann und sie eine Frau war, und als hätte sie nichts dagegen, wenn er sie attraktiv fand. Kein amerikanisches Mädchen hatte Mitchell jemals so angesehen.
Deanie hatte recht: Europa war ein schönes Plätzchen.
Mitchell ließ die Frau nicht aus den Augen, bis sie verschwunden war. Als er sich wieder dem Tisch zuwandte, starrte Claire ihn kopfschüttelnd an.
«Glotzer», sagte sie.
«Was?»
«Auf dem Weg hierher hast du jede Frau angegafft, der wir begegnet sind.»
«Hab ich nicht.»
«Hast du wohl.»
«Fremde Länder», sagte Mitchell, um es herunterzuspielen. «Ich bin nur anthropologisch interessiert.»
«Ach so, du betrachtest Frauen als irgendeinen Stamm, den es zu untersuchen gilt?»
«Jetzt kannst du dich auf was gefasst machen, Mitchell», sagte Larry. Er hatte offenbar nicht vor, ihm auch nur irgendwie zu Hilfe zu kommen.
Claire sah Mitchell mit unverhohlener Verachtung an. «Bist du immer so, dass du Frauen zum Objekt machst, oder nur auf Europareisen?»
«Wenn ich Frauen anschaue, heißt das noch lange nicht, dass ich sie zum Objekt mache.»
«Was machst du dann mit ihnen?»
«Sie anschauen.»
«Weil du sie ficken willst.»
Das entsprach mehr oder weniger der Wahrheit. Plötzlich, in Anbetracht von Claires züchtigendem Blick, schämte Mitchell sich seiner. Er wollte von Frauen geliebt werden, von allen Frauen, angefangen bei seiner Mutter und immer so weiter. Darum brach, sobald
irgendeine
Frau wütend auf ihn war, das ganze mütterliche Missfallen über ihn herein, als hätte der ungezogene Bengel gerade wieder etwas angestellt.
Als Reaktion auf dieses Schamgefühl machte Mitchell etwas anderes typisch Männliches: Er schwieg. Nachdem sie bestellt hatten und der Wein und die Speisen gebracht worden waren, konzentrierte er sich aufs Essen und Trinken und sagte kaum noch etwas. Claire und Larry schienen zu vergessen, dass er da war. Sie redeten und lachten. Fütterten sich gegenseitig mit Gabeln voller Essen.
Draußen schoben die Massen sich noch dichter vorbei. Mitchell gab sich alle Mühe, nicht aus dem Fenster zu starren, aber plötzlich sprang ihm etwas ins Auge: eine Frau in einem engen Kleid und schwarzen Stiefeln.
«Unglaublich!», schrie Claire. «Er hat es schon wieder getan!»
«Ich hab nur aus dem Fenster geschaut!»
«Du bist ja so ein Glotzer!»
«Was soll ich denn machen? Eine Augenbinde tragen?»
Aber jetzt war Claire glücklich. Sie war berauscht von ihrem so offenkundigen Sieg über Mitchell, der sein Unbehagen nicht verbergen konnte. Ihre Wangen röteten sich vor Freude.
«Dein Freund hasst mich», sagte sie, wobei sie den Kopf an Larrys Schulter lehnte.
Larry sah auf und suchte, nicht ohne Mitgefühl, Mitchells Blick. Er legte seinen Arm um Claire.
Mitchell gönnte es ihm. An Larrys Stelle hätte er es genauso gemacht.
Kaum war das Essen vorbei, entschuldigte Mitchell sich und sagte, er habe das Bedürfnis, ein bisschen spazieren zu gehen.
«Sei mir nicht böse!», bat Claire. «Du kannst Frauen angucken, wie du Lust hast. Ich verspreche dir, ab jetzt sage ich kein Wort.»
«Ist schon gut», sagte Mitchell. «Ich laufe nur zu meinem Hotel zurück.»
«Komm morgen früh bei Claire vorbei», sagte Larry, bemüht, die Stimmung etwas aufzulockern. «Wir können in den Louvre gehen.»
Zunächst war es reine Wut, die Mitchell trieb. Claire war nicht das erste Collegemädchen, das ihm sexistisches Verhalten vorwarf. Es ging schon über Jahre so. Mitchell hatte immer vorausgesetzt, dass die Männer aus der
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