Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Liebeslotterie

Die Liebeslotterie

Titel: Die Liebeslotterie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Nicoll
Vom Netzwerk:
war es nicht wert, einen Fingernagel zu riskieren, deswegen ließ Agathe sie stecken.
    Obwohl die Postkarte wochenlang unbeachtet an der Wand gehangen hatte, zog die Heftzwecke Agathes Blicke seltsamerweise wieder und wieder an, und jedes Mal, wenn sie hinschaute, fiel ihr die zerrissene Karte wieder ein – das Bild, Tibos Worte und was sie bedeuteten, Hektors Version des Gemäldes und was sie zu bedeuten hatte oder was Agathe darin sah. Die Heftzwecke war da, wenn Agathe aus Peter Stavos gläserner Hausmeisterkabine zurückkam, wo sie ihre Brote gegessen hatte, denn inzwischen war es zu kalt geworden, um draußen auf dem Platz zu essen. Die Heftzwecke war um kurz vor drei da, als Agathe aufstand, um an Tibos Tür zu klopfen und ihn an die Schulklasse zu erinnern, sie war da, als Agathe sich wieder setzte, und auch um fünf, als sie ihren Schreibtisch aufräumte und die Lampe ausknipste.
    «Verdammt», sagte sie und ging.
     
    Agathe kaufte dem Einbeinigen, der an seinem angestammten Platz neben der Bank stand und den vorbeihetzenden Passanten unverständliche, gelallte Schlagzeilen entgegenschleuderte, eine Zeitung ab. Der Einbeinige war dreckig und roch, und er stand in demselben dicken Mantel da, den er sommers wie winters trug. Agathe konnte die Karbolineumschwaden riechen, die seine Mütze abgab, als sie ihm eine Münze in die Hand drückte. Jemandes Kind, dachte sie. Er war jemandes Baby. So wie mein Baby. Armes Baby.
    Während sie an der Haltestelle in der Schlange stand, entdeckte Agathe Tibo, der aus dem Rathaus kam und auf dem Heimweg in die Schlossstraße einbog. Sie beobachtete ihn, bis er den Kopf drehte und sie ansah. Schnell schlug Agathe die Augen nieder und blieb an einem Artikel über den Rekordumschlag hängen, der im Hafen mit Kohl gemacht wurde. Sie las die Schlagzeile und wandte dann den Blick, ohne den Kopf zu bewegen, in Tibos Richtung. Er stand immer noch am selben Fleck und sah sie an. Agathe kehrte ihm den Rücken zu und vertiefte sich wieder in die Abendzeitung. Sie hasste ihn. «Der blödige Herr von und zu ‹Nennen Sie mich Bürgermeister›-Krovic. Mein Baby, mein armes Baby.»
    Ihr Blick blieb an dem Wort «Sauerkraut» hängen, das sie wieder und wieder las, dann kam zum Glück die Tram, und die Schlange schob sich vorwärts.
    Bis zum Frühling war es noch lange hin, und die sechs trüben Glühbirnen, die das Innere der Tram erleuchteten, ließen die Fenster wie schwarze Scheiben aussehen. Die Fahrgäste ignorierten einander, lasen Zeitung oder starrten in die beschlagenen, undurchdringlichen Fensterscheiben, sie betrachteten ihre Handschuhe oder taten so, als beschäftigten sie sich wieder einmal mit den bunten Pappwerbetafeln für Bora-Bora,die unter der Decke angebracht waren. Im hinteren Teil standen zwei Sitzbänke gegenüber, seitlich zur Fahrtrichtung. Agathe hasste es, dort zu sitzen und ihr Gegenüber im Blick haben zu müssen. Sie starrte zu Boden und kramte unschlüssig in ihrer Handtasche herum, bis der Schaffner an der zweiten Haltestelle auf der Ampersandallee «Aschestraße! Nächster Halt: Aschestraße!» brüllte und die Tram sich füllte.
    Fast ein Dutzend Passagiere, die am feuchten, kalten Flussufer gewartet hatten, zwängten sich herein, und sieben von ihnen fanden keinen Sitzplatz. Sie schlurften durch den Mittelgang und griffen nach den roten Lederriemen, die von der Messingstange hingen, die die Tram der Länge nach durchlief. Und da, direkt vor Agathe, stand Frau Oktar aus dem Delikatessenladen. Sie sah Agathe ins Gesicht.
    Sie taten genau dasselbe, zu exakt derselben Zeit. Sie sahen einander an, und jede von ihnen erkannte eine nette, länger nicht gesehene Nachbarin aus der Aleksanderstraße wieder. Sie lächelten beide, und beide riefen fröhlich: «Oh, hallo!», bis ihnen plötzlich einfiel, warum sie einander so lange nicht gesehen hatten. Beide wurden ganz verlegen.
    «Frau Stopak», sagte Frau Oktar.
    «Frau Oktar», sagte Frau Stopak.
    «Wie geht’s?», fragte Frau Oktar.
    «Danke, gut», nickte Agathe. «Und Ihnen?»
    Frau Oktar verzog leicht die Lippen, aber sie brachte nicht mehr heraus als ein «Hmmpf».
    Mehr war nicht zu sagen. Frau Oktar gab vor, aus dem Fenster zu schauen, während Agathe die Zeitung aufschlug und zu lesen vorgab.
    Sie las: «Sauerkraut, Sauerkraut, Sauerkraut», und sie schäumte innerlich, während die Tram dahinzuckelte. «Siehat nicht das Recht, über mich zu urteilen. Ich habe nichts falsch gemacht. Nein, das habe ich

Weitere Kostenlose Bücher