Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Liebeslotterie

Die Liebeslotterie

Titel: Die Liebeslotterie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Nicoll
Vom Netzwerk:
nicht. Ich schäme mich nicht. Sie hat ja keine Ahnung.»
    Frau Oktars Hüfte lehnte an Agathes Knie. Der grobe Wollstoff ihres Wintermantels scheuerte gegen Agathes Haut, die heiß wurde und zu jucken anfing. Agathe stellte sich den Fleck vor, der sich dort bildete wie der Abdruck eines Waffeleisens, und sie wurde wütend. Sie versuchte es mit einem vorsichtigen Kniezucken, auffällig genug, um Frau Oktar zu ärgern oder sie vielleicht sogar abzuschütteln, aber keinesfalls so auffällig, Agathe unhöflich wirken zu lassen oder ihre Wut zu verraten.
    Der Schaffner quetschte sich zwischen den Passagieren hindurch, um das Fahrgeld einzusammeln. Er kramte in dem hufeisenförmigen Lederbeutel, der ihm um den Hals hing, nach Wechselgeld. Frau Oktar brauchte beide Hände, um ihre Handtasche zu öffnen und nach Fahrgeld zu suchen. Sie ließ den Halteriemen über ihrem Kopf los und versuchte, Balance zu halten, während sie nach Münzen suchte und dabei gegen Agathes Zeitung stieß. Die Frauen tauschten ein eisiges Lächeln aus, nicht, ohne die Augenbrauen über die jeweils andere hochzuziehen. Agathe bemerkte die bunte Karte in Frau Oktars Handtasche, ein Portrait von mir, der heiligen, heiligen Walpurnia, und das versetzte ihr einen kleinen Stich.
    «Grüne Brücke! Nächster Halt: Grüne Brücke!», rief der Schaffner und läutete die Eisenglocke.
    «Hier muss ich aussteigen», sagte Frau Oktar.
    «Ja», sagte Agathe.
    «Sie müssen noch ein Stück weiterfahren», sagte Frau Oktar.
    «Ja», sagte Agathe.
    «Tja, dann auf Wiedersehen», sagte Frau Oktar.
    «Ja. Auf Wiedersehen», sagte Agathe.
    Frau Oktar schenkte Agathe ein letztes, eiszapfendünnes Lächeln und legte die wenigen Schritte zur hinteren Plattform zurück. Und dann, kurz bevor sie in der Dunkelheit verschwand, um zu ihrer hübschen, hellerleuchteten Wohnung über dem Delikatessenladen zu laufen, wo es nach Zimt und gutem Speck roch, drehte sie sich noch einmal um und schaute Agathe ernst an.
    «Was Sie getan haben», sagte Frau Oktar, «hätte ich schon vor Jahren tun sollen.» Und damit verschwand sie.
    Auf der verbleibenden Strecke zur Gießereigasse saß Agathe mit offenem Mund da und starrte auf die Stelle, wo Frau Oktar eben noch gestanden hatte, und sie wunderte sich, wie seltsam fremd das Leben der anderen war. Sie war so verblüfft, dass sie vollkommen vergaß, sich innerlich auf den fürchterlichen Fußmarsch durch den Tunnel vorzubereiten, der zu der Wohnung in der Kanalstraße führte.
    Agathe hasste es, durch die Kanalstraße zu laufen. Ohne den Mantel aus Schneeflocken, den die Straße an ihrem ersten Tag dort getragen hatte, war sie kein bisschen romantisch mehr. Das Kopfsteinpflaster war alt und kaputt und verdreckt, von den rostigen Geländern am Kanalufer blätterte Farbe ab, und obwohl Agathe die defekte Straßenlaterne längst der Stadtverwaltung gemeldet hatte, war nichts passiert. Aus irgendeinem Grund schien die Kanalstraße auf niemandes Prioritätenliste ganz oben zu stehen, aber Agathe konnte ja schlecht zum Bürgermeister gehen und um Hilfe bitten.
    Achilles hatte ihre Schritte erkannt und war lautlos wie die Dämmerung von der Fensterbank gesprungen, um ihr schnurrend um die Füße zu streichen. Agathe beugte sich hinunter,um ihn an den Ohren zu kraulen. «Ich weiß, ich weiß. Ich liebe dich auch», murmelte sie. Achilles kringelte sich um ihre Beine, sprang ein paar Schritte vor, hüpfte wieder zurück, miaute glücklich und leistete ihr Gesellschaft.
    Agathe näherte sich der Wohnung nur zögerlich. Sie traute ihren Absätzen auf dem schmierigen Kopfsteinpflaster nicht, und sie hielt ihren Schlüsselbund wie einen Schlagring, bereit für den ersten Betrunkenen, der sie womöglich aus der Dunkelheit ansprang.
    Achilles hingegen liebte die Kanalstraße. Als er nach einer in dem Pappkarton, in dem Hektor ihn aus der Aleksanderstraße verschleppt hatte, verbrachten Woche endlich nach draußen auf Erkundung gehen durfte, hatte er sich sofort zu Hause gefühlt. Er liebte es, im Erdgeschoss zu wohnen und hinaus zu dürfen, er liebte alles, was Agathe hier verabscheute. Er liebte den Dreck und das Wilde, die dunklen Ecken und die Gefahr. Er liebte, dass niemand außer Agathe sich die Mühe machte, den Mülltonnendeckel ordentlich zu schließen, er liebte die Ratten, die neben den Gullis hockten, er liebte die baufälligen, flachen Gebäude – im Sommer ideal für ein Sonnenbad   –, die hübschen Katzendamen, die ihren

Weitere Kostenlose Bücher