Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Liebeslotterie

Die Liebeslotterie

Titel: Die Liebeslotterie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Nicoll
Vom Netzwerk:
und die Werbung für den Winterschlussverkauf im Kaufhaus Braun starrte, hinter der sich Geschichten von ausgesetzten Möbelstücken, Sauerkraut und noch Schlimmerem versteckten. Sie saß lange Zeit reglos da und starrte ins Nichts, während Achilles mit geschlossenen Augen und in entspannter Verzückung auf ihren Schultern lag, bis um Punkt halb sieben der Minutenzeiger des Weckers auf dem Fensterbrett mit einem lauten Klicken über dem Alarmzeiger einrastete. «Wie die Zeit vergeht», sagte Agathe und stand auf, um das Geschirr zu spülen.
    Während das Wasser kochte und Achilles mürrisch und beleidigt umherstrich, zählte Agathe das Kleingeld in ihrer Handtasche. Es war nicht mehr viel, es reichte kaum für die Tramfahrt am nächsten Morgen, und ganz bestimmt reichte es nicht für eine abendliche Hin- und Rückfahrt zum Goldenen Engel.
    «Ich werde nicht hinfahren», sagte Agathe. «Ich muss hinfahren. Ich habe zugesagt. Ich habe es versprochen.»
    Sie kippte das Geld auf die Abtropffläche der Spüle und begann, sich die Münzen in die Hand zu zählen. Es würde für zwei Fahrten mit der Tram reichen.
    «Hinfahren, zurückfahren und morgen früh zu Fuß zur Arbeit gehen? Hingehen, zurückfahren, Tram zur Arbeit? Hinfahren, zurücklaufen?»
    Das Wasser kochte. Agathe sammelte die Münzen ein und warf sie in ihre Handtasche. «Hektor wird etwas Geld übrig haben. Er wird kaum alles ausgegeben haben.»
    Sie spülte das Geschirr. Sie trocknete es ab. Sie räumte es in den Schrank zurück, ohne auch nur einen einzigen Blick auf die Zeitung auf dem Küchentisch zu werfen.
    Sie rollte ihre Blusenärmel herunter, knöpfte die Manschetten zu, strich sich den Rock glatt und ordnete vor dem Spiegel ihr Haar, und dann gab es nichts mehr zu tun bis zu ihrem Treffen mit Mamma Cesare – das noch Stunden entfernt war. Nichts, außer die Zeitung zu lesen.
    Agathe legte sich aufs Bett und betrachtete die Flecken an der Decke. Sie setzte sich auf. Die Zeitung lag immer noch da. Agathe ging zum Küchentisch zurück und setzte sich, ohne die Zeitung anzurühren. Nachdem sie die Zeitung lange genug beobachtet hatte, klatschte sie in die Hände und knüllte das Papier zu einem Ball zusammen. Das Geräusch erschreckte Achilles, der sich gerade den Hintern geleckt hatte. Erstaunt sah er sich um.
    «Jawohl, es reicht! Ich kann hier nicht bleiben. Achilles, komm, wir gehen aus.» Und bevor der Wecker noch allzu oft ticken konnte, hatte Agathe ihren Mantel übergezogen und Achilles auf die Straße gescheucht. Und noch bevor er weitere zehn Mal tickte, war sie zurückgekommen, um sich den Zeitungsball vom Tisch zu schnappen.
    Er hütete ein Geheimnis, irgendeine Wahrheit, die Hektor vor ihr verbergen wollte. Eine Wahrheit, die ihn beschämte, die ihm das Herz brach. Deswegen hatte Agathe beschlossen,Hektor dürfe niemals erfahren, dass sie Zeitung gelesen hatte. Dass sie sich geweigert hatte, die betreffende Stelle zu lesen, würde er ihr ohnehin nicht glauben. Er durfte es nie erfahren, so einfach war das. Während sie dicht am Geländer die Kanalstraße entlangging, ließ Agathe die Zeitung ins Wasser fallen. Sie sah sie im schwachen Licht der Straßenlaternen davontreiben, deutlich hob sich das weiße Papier vom schwarzen Wasser ab, bis es schließlich aufblühte wie eine Rose und dann versank.
    Agathe ging weiter. Sie war zufrieden mit sich. Sie war stolz auf ihre Standhaftigkeit. Fast hätte sie einen kleinen Heiligenschein verdient. Hektor hatte etwas Böses verbrochen, aber sie vergab ihm. Schlimmer noch, er hatte sie betrogen, indem er es verheimlichen wollte. Aber sie vergab ihm. In der Tat, sie würde ihn betrügen und so tun, als habe sie seinen Betrug nicht bemerkt, nur, um ihn schützen und um so mehr lieben zu können. Die arme Agathe, wie wenig sie über das Lügen wusste.

 
    ES WÄRE ZU MÜHSELIG, den ganzen Weg in die Stadt mit Agathe zu laufen, zu schmerzlich, sie vor den Drei Kronen innehalten zu sehen, wo sie ein paar warme Worte an die frierenden Kinder richtete, denen man befohlen hatte, für «zehn Minuten» zu warten, und wo sie Hektors Stimme durch das Fenster hörte, eine Hand an die Klinke legte, zögerte und schließlich davonlief, weil die Tür sich plötzlich öffnete. Zu schmerzlich. Wir wollen auch übersehen, dass sie vor der Aleksanderstraße den Gehsteig wechselte. Zu persönlich. Sehen Sie nicht hin, wie sie da auf der Grünen Brücke steht und den Fluss betrachtet, die schwarzen Wassermassen, die das

Weitere Kostenlose Bücher