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Die Liebeslotterie

Die Liebeslotterie

Titel: Die Liebeslotterie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Nicoll
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Donnerstagmorgen in Mamma Cesares Leben – kehrte Bürgermeister Tibo Krovic wie üblich im Goldenen Engel ein, trank in aller Ruhe einen Wiener Feigenkaffee, ließ eine Tüte mit Pfefferminzbonbons neben der Untertasse liegen und trat wieder auf die Schlossstraße hinaus.
    Wie üblich eilte Mamma Cesare zu seinem Tisch, sobald er gegangen war, nur dass sie sich heute, anstatt das Geschirr abzuräumen, die Tüte mit den Pfefferminzbonbons in ihre Schürze steckte und durch die Schwingtür nach draußen lief.
    Auf der Straße musste Mamma Cesare sich beeilen, um Tibo nicht aus den Augen zu verlieren. Sie duckte sich zwischen den Passanten hindurch, schlängelte sich auf kurzen Beinen durch die Menge der Berufstätigen, vorbei an Leuten, die sie nie zuvor gesehen hatte, die immer draußen blieben, immer auf dem Weg zur Arbeit waren, während sie drinnen stand und Kaffee und Torte servierte. Sie atmeten über ihren Kopf hinweg, stießen Dampfwolken in die Luft. Der Tag war sehr kalt. Später würde man sich im Goldenen Engel fragen, ob Mamma Cesare noch ein paar Jahre zu leben gehabt hätte, hätte sie an jenem Morgen einen Mantel übergeworfen, anstatt in einer braunen Kittelschürze auf die Schlossstraße zu laufen.
    Aber während sie lief, spürte Mamma Cesare die Kälte nicht. Sie konzentrierte sich auf Tibo, überzeugte sich davon, dass er den gewohnten Weg ging, durch die Schlossstraße und über den zugefrorenen Ampersand, über den ordnungsgemäß gestreuten Rathausplatz und ins Rathaus hinein. Erst als sie unter den Arkaden zwischen den breiten Granitpfeilern stand und den Blick unruhig über den Platz zur Schlossstraße, über beide Seiten der Ampersandallee und zurückschweifen ließ, als sie Ausschau hielt, spürte sie, wie die Kälte sie packte, an ihr zerrte, sie durchdrang und überwältigte wie eine Beute.
    Sie tänzelte mit Schlurfschritten hinter einen Pfeiler, verschränkte die Arme und murmelte in ihrem alten Bergdialekt die schlimmsten Flüche; sie schlug sich die Fäuste an den Leib und blies sich auf die krummen, braunen Finger, bis Agathe vorbeikam. Mamma Cesare fuhr eine eisige Klaue aus und packte sie beim Handgelenk.
    Agathe schlug sich eine Hand an die Brust. «Mein Gott, was haben Sie mich erschreckt!»
    «Das ist gute Sache.» Mamma Cesares Stimme zitterte. «Du solltest sehr erschreckt sein. Du kommst heute Abend.»
    «Ich weiß nicht», sagte Agathe. «Ich werde es versuchen. Ist alles in Ordnung? Sie sehen ganz erfroren aus. Kommen Sie herein, und wärmen Sie sich auf.»
    «Weg damit, und weg mit ‹Ich weiß nicht›. Du kommst. Lange Zeit warte ich. Immer sagst du, du wirst kommen. Heute Abend. Du kommst heute. Wehe nicht.»
    Selbst durch den Stoff ihres Wintermantels fühlte Agathe die Hand der kleinen Frau wie eine Kralle.
    «Lange Zeit warte ich», wiederholte sie. «Du kommst.»
    Agathe schaute auf ihren Arm und versuchte, sich loszumachen.«Ist ja gut. Ja. Wenn es so wichtig ist, werde ich kommen.»
    «Versprich es mir jetzt. Du versprichst.»
    «Ja, ich verspreche es.»
    «Zehn Uhr. Wie vorher. Du versprichst.»
    «Ja, ich verspreche es. Um zehn.»
    Erst da lockerte Mamma Cesare ihren Griff, drehte sich um und schlurfte krummbeinig und ohne ein weiteres Wort in Richtung der Weißen Brücke davon.
    Die Eiseskälte, die sich in Mamma Cesares Herz gebohrt hatte, war auch in Agathe eingedrungen. Agathe konnte sie spüren, während sie mit finsterem Blick die grüne Marmortreppe hinaufstieg und sich das Handgelenk rieb. Die Kälte breitete sich im Büro aus und wurde immer schlimmer. Der Raum war eisig. Er war wie eingefroren. Das Lämpchen der Kaffeemaschine brannte nicht. Tibos Gesicht war grau. Als sie hereinkam, sah sie ihn in sein Arbeitszimmer flüchten. Als sie seine Tür erreicht hatte, schloss diese sich direkt vor ihrer Nase. Agathe hob eine Hand, um anzuklopfen, überlegte es sich anders und ging, um ihren Mantel aufzuhängen.
    Sie war immer noch festentschlossen, Tibo ihr Angebot zu unterbreiten. Nicht um ihretwillen. Nicht, weil sie es so wollte, sondern weil es eine Lösung für ihn bringen würde, einen Endpunkt, ihm gestatten würde, einen Neuanfang zu wagen. Danach wäre er befreit, und sie beide könnten nach vorn blicken. Agathe saß am Schreibtisch, hinter einem Berg Arbeit verschanzt, und ließ ihre Finger klackernd über die Tastatur fliegen, während sie an ihrer Wortwahl feilte. «Tibo, ich habe mir überlegt   … nein. Tibo, nach langen Überlegungen   …

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