Die Liebeslotterie
Briefumschlag sofort gefunden haben. Wahrscheinlich hatten sich die Türen des Goldenen Engel noch nicht ganz hinter Tibo geschlossen, als Cesareden Umschlag aufriss und die dunklen Haare von Agathe darin entdeckte, und wahrscheinlich hatte er sofort gewusst, was zu tun war. Ließen sich diese Dinge mit ein paar simplen Worten anschieben, mit ein paar mystischen Gesten, oder bräuchte es einen Vollmond und ein unschuldiges Kätzchen? Nein. Plötzlich begriff Tibo. Cesare hatte für seinen Liebeszauber nicht länger gebraucht als Tibo auf seinem Weg durch die Schlossstraße, und der Zauber wirkte bereits. Agathe war schon dabei, sich wieder in ihn zu verlieben. Noch wehrte sie sich dagegen, aber es war zwecklos. Es war die einzig logische Erklärung für ihr dummes, plumpes Angebot, und Tibo vergab ihr großzügig. «Die Ärmste», sagte er sich, und dann eilte er ins Vorzimmer und rief: «Ist schon gut. Es tut mir leid. Es war meine Schuld.» Aber Agathe war verschwunden. Tibo blieb kurz stehen, den zerbeulten Papierkorb unter dem Arm, und starrte ihren leeren Stuhl an, als Peter Stavo in der Tür erschien. Er klapperte mit einer Zange wie mit Kastagnetten.
«Ich soll Ihnen ausrichten, dass Agathe sich nicht gut fühlt und nach Hause gegangen ist.» Er klapperte mit der Zange. «Hat irgendwas über eine Heftzwecke gesagt, die sie in den Wahnsinn treibt. Ich soll mich drum kümmern. Und Sie sehen aus, als könnten Sie einen neuen Papierkorb gebrauchen, Chef.»
NATÜRLICH WAR Agathe nicht krank, und natürlich war sie nicht nach Hause gegangen. Sie verließ das Rathaus über die Hintertreppe, meldete sich bei Peter Stavo in der Glaskabine ab und hastete über den Rathausplatz zum Kaufhaus Braun, wo sie sich in die Cafeteria setzte und einen Kaffee sowie drei Stück Torte bestellte. Der Kuchen kam auf einem Silberteller daher, spektakulär hoch aufgetürmt wie eine Zikkurat aus Backwerk – als Fundament Gebäck, im Mittelteil eine ordentliche Schicht Obstkuchen und auf der Spitze eine Krone aus Sahneschnittchen und Baisers. Agathe aß alles auf, und während sie aß, starrte sie aus dem Fenster auf meine Statue, die gegenüber den Eingang zur Genossenschaftlichen Privatbank Ampersand bewachte, und orderte mit ungeduldig wedelnder Hand Kaffeenachschub.
Agathe ließ die zierliche, silberne Kuchengabel fallen. Was für ein ungeeignetes Instrument. Die Gabel klirrte auf den Teller, und Agathe machte sich mit beiden Händen über den Kuchen her und stopfte sich den Mund voll, ohne mich, die arme, warzige, behaarte Walpurnia, aus den Augen zu lassen, die ungeliebte Walpurnia, die bei jedem Wetter ganz allein oben auf der Bank stehen musste, und sie verfluchte mich. «Du Betrügerin! Du Heuchlerin! Lügnerin! Verräterin!» Und dann rief sie laut und mit vollem Mund: «Meh ha-hee!», und fuchtelte, als die Kellnerin vorbeikam, mit der leeren Tasse herum.
Die netten Damen, die ihren Morgenkaffee im Kaufhaus Braun tranken, waren nicht traurig, als Agathe endlich ging, und ehrlich gesagt, ging Agathe gern. Der Anfall war vorüber. Agathe fühlte sich aufgedunsen, und als das Mädchen an der Kasse eine kurze, flatterhafte, unschlüssig angewiderte Geste machte und mit einer Serviette wedelte, bemerkte Agathe beschämt den riesigen Sahneklecks auf ihrer Nase, den die verspiegelten Wände der Cafeteria endlos reflektierten. Agathe wischte sich die Nase mit dem Handrücken ab, so, wie sich die Kinder in der Kanalstraße den Rotz abwischen, und trat die Flucht an, indem sie die Treppe hinunter, durch die Kurzwarenabteilung, die Kosmetikabteilung und die Parfumerie nach draußen auf die sonnige Straße lief.
Agathe war verschwitzt und außer Atem, und ihr war schlecht. Sie hätte nach Hause gehen können. Sie hätte die Sonne genießen und einen Spaziergang am Ampersand machen können. Sie schaute zum Ufer hinunter, überlegte kurz und wandte sich dann in die andere Richtung.
Agathe wusste genug über die Traurigkeit, um sie in all ihren Farben und Erscheinungsformen zu erkennen. In der Kanalstraße erwartete sie eine ganz bestimmte Sorte Traurigkeit. Aber auf der Straße vor dem Kaufhaus Braun, wo der Schatten meiner Statue auf sie fiel wie ein Segen, fühlte Agathe etwas anderes. Eine wohltuend schmerzhafte Melancholie, wie das Kribbeln und Stechen in den Gliedmaßen, das uns verrät, dass sie, entgegen allen Befürchtungen, doch nicht abgestorben sind. Es war nur der Hauch eines Gefühls, und Agathe wollte mehr. Sie
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