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Die Liebeslotterie

Die Liebeslotterie

Titel: Die Liebeslotterie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Nicoll
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zulächelte. Deswegen lief er zum Rathaus. «Ich habe zu viel zu tun», redete er sich ein. «Morgen.»
    Tibo überquerte die Weiße Brücke, wo die kreischenden Schwalben dicht über die Wasseroberfläche des Ampersand jagten, geschickt den Pfählen der Piers auswichen und im Flug Fliegen aufschnappten. Bald würden sie ihre Kinder auf Telegraphenmasten und Dachfirsten versammeln, um ihnen am leeren Himmel den Tausende von Kilometern langen Weg nach Afrika zu zeigen. Es war phantastisch, es war unglaublich – so wie die Vorstellung von Cesares Liebeszauber. Man konnte glauben, dass Schwalben den Winter verschliefen, eingegraben in den Schlamm am Grund des Ampersand, oder man konnte glauben, dass sie jeden Sommer den ganzen langen Weg aus Afrika zurückfanden. Tibo konnte glauben, Agathe Stopak hätte sich drei Jahre lang gefragt, wie es wäre, mit ihm zu schlafen, oder er konnte glauben, sie sei verhext.Eigentlich war es offensichtlich. Man musste lediglich entscheiden, welche Vorstellung die unglaubwürdigere war.
    Tibo überquerte den Rathausplatz, er wünschte Peter Stavo, der eben die Eingangshalle gewischt hatte, einen «guten Morgen», er nickte dem Portrait von Bürgermeister Anker Skolvig zu, und er trat beiseite, als Sandor, der Laufbursche, an ihm vorbei die Treppe hinaufsprintete, um etwas in die Planungsabteilung zu bringen.
    Es war ein ganz normaler Tag, und Tibo war fest entschlossen, es dabei zu belassen. Er würde wegen des Zwischenfalls vom Vortag kein Theater veranstalten, aber genauso wenig könnte er ihn ignorieren. Was gesagt worden war, konnte nicht zurückgenommen werden. Außerdem hatte Cesares Zauber einen weiteren Tag Zeit zu wirken gehabt. Jetzt wäre er noch stärker. Was immer Agathe gestern angetrieben hatte, würde sie heute um so heftiger antreiben – so wie eine Droge, wie Alkohol, der sie Tropfen um Tropfen überwältigte. Und Tibo hatte Zeit.
    Er hatte so lange gewartet, dass er problemlos noch ein weiteres bisschen warten könnte, so wie auf einen besonders köstlichen Pfirsich zum Beispiel, der endlich reifen und vom Ast fallen würde. Tibo redete sich ein, es sei egal, dass der Pfirsich ihm nicht gehörte und dass er nicht einmal den Mut gehabt hatte, ihn zu stehlen; demnächst würde er fallen, und die Tasche, in der er landen würde, gehörte Tibo. Das reichte.
    An einem normalen Morgen – etwas normaler als dieser – hätte Tibo mindestens zwanzig Minuten im Goldenen Engel verbracht. Zwanzig Minuten im Arbeitszimmer konnten sehr lang werden, hatte man nichts zu tun. Tibo stellte sich an das Eckfenster. Von hier aus konnte er die Schlossstraße, die Brücke und einen guten Teil der Ampersandallee überblicken.Egal, aus welcher Richtung sie käme, Tibo würde sie sehen. Tibo blieb lange Zeit reglos stehen und starrte auf den Rathausplatz hinunter, wo eine eigenartige Gruppe von Menschen seine Aufmerksamkeit fesselte – ein Muskelmann aus dem Zirkus, der eine Leopardenhaut trug, ein Mädchen mit einem weißen Terrier, der wie von einer Schnur gezogen durch die dargebotenen Reifen sprang, und zwei andere Mädchen, die ein Stück entfernt standen und mit indischen Keulen jonglierten. Tibo fand es sehr seltsam, dass niemand die Artisten beachtete. Sie schienen sich einfach bloß die Zeit zu vertreiben, so, wie andere Leute herumstehen, die Wolken betrachten und mit dem Kleingeld in der Hosentasche klimpern. Aber als Agathe um die Ecke bog, steckte sich der Muskelprotz die Finger in den Mund und pfiff, woraufhin die Mädchen nach ihren Keulen schnappten wie die jagenden Schwalben nach Fliegen und der Terrier mitten im Sprung innehielt, die Beine unter den Bauch klappte und aufs Pflaster plumpste.
    Auf der anderen Seite des Platzes, hinter der Scheibe, gellte der Pfiff in Tibos Ohren, aber Agathe schien nichts bemerkt zu haben. Es war, als hätte sie nichts gehört, und sie ließ sich auch nichts anmerken, als die Zirkusleute sich hinter ihr versammelten und in ihrem Gefolge über den Rathausplatz liefen. Der kleine Hund kläffte und sprang um sie herum.
    Tibo erschrak. Diese Leute gefielen ihm ganz und gar nicht. Die sahen aus wie Taschendiebe, wie Gauner oder Mädchenhändler, jede Wette, dass jener kleine Hund keine Steuermarke trug. Er stürzte aus dem Büro und lief die Treppe hinunter, aber als er auf dem Platz angekommen war, stand Agathe allein vor ihm.
    «Haben diese Leute Sie belästigt?», fragte Tibo.
    «Welche Leute?», fragte Agathe und schob sich an ihmvorbei, um

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