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Die Liebeslotterie

Die Liebeslotterie

Titel: Die Liebeslotterie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Nicoll
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und nie zu Ende gemalt hatte. Sie erinnerte sich daran, auf dem Bett gelegen, die Decke angestarrt und über Tibo und die Frage nachgedacht zu haben. Sie hatte die Frage nie gestellt. Sie hatte nie zu ihm gesagt: «Tibo, würde es die Sache einfacher für dich machen, wenn wir beide uns nur einmal lieben würden, in dem Wissen, dass es das einzige Mal bliebe? Wäre das genug? Würde es dich heilen?»
    «Bing!» Agathe sprang auf und lief zur Tür zu Tibos Arbeitszimmer, und zum ersten Mal seit drei Jahren trat sie ein, ohne anzuklopfen, sie stieß einfach die Tür auf und trat ein, und da saß er, an seinem Schreibtisch. Er war gerade dabei, etwas in einen braunen Umschlag zu stecken, und er hob lächelnd den Kopf, weil sie nicht angeklopft hatte und ihm folglich keine Zeit geblieben war, ein grimmiges Gesicht aufzusetzen; denn seine natürliche Reaktion beim Gedanken an Agathe war es zu lächeln, und so lächelte er wie einst, wenn sie in sein Zimmer gekommen war.
    Agathe sagte: «Bürgermeister Krovic   …», und hielt inne. Sie hielt inne, weil sie unmöglich weitersprechen konnte. Kein Satz, der mit «Bürgermeister Krovic» begann, könnte jemals mit einer Einladung ins Bett enden. Agathe klappte ihren hübschen Mund so energisch zu, dass ihr Gebiss klapperte, und dann drehte sie sich um und rauschte hinaus. Kurz darauf erhob Tibo sich vom Schreibtisch, um die Tür wieder zu schließen.
     
    Als der gute Bürgermeister Krovic am nächsten Morgen zwei Haltestellen früher aus der Tram ausstieg und durch die Schlossstraße zum Goldenen Engel lief, trug er den braunen Umschlag bei sich, den Agathe am Vortag gesehen hatte. Beim Gehen schob er immer wieder eine Hand in seine Jackentasche, um sich des Umschlags zu versichern. Ja, er war noch da, gut versteckt hinter der großen, schwarzen Geldbörse.
    Im Goldenen Engel stellte Tibo sich an seinen gewohnten Platz neben der Säule am Eingang. Er nippte an seinem gewohnten Wiener Feigenkaffee und tat so, als lese er die Zeitung. Der Umschlag in seiner Tasche brannte ungefähr so, wie die Postkarten vor Jahren gebrannt hatten. Seine Ohrenbrannten ebenfalls, aber ausgerechnet heute, als er sich nichts sehnlicher wünschte, als anonym und unerkannt zu bleiben, fand Tibo im Goldenen Engel keine Ruhe. Wohin er sich auch stellte, er stand jedem einzelnen Kellner im Weg.
    Jeder einzelne wünschte ihm einen «guten Morgen, Herr Bürgermeister», sodass er gezwungen war, den Gruß mit einem «guten Morgen» zu erwidern, und außerdem konnten es die ausnahmslos begrüßten Kellner allesamt nicht lassen, ihm immer wieder lächelnd zuzunicken, während sie geräuschlos durchs Restaurant huschten. Tibo schlug die Zeitung auf und vergrub sich in einem Artikel über Dots ältesten Goldfisch, dann hatte er seine Kaffeetasse geleert. Er warf einen Blick auf die Uhr. Zehn vor neun. Er nahm ein Pfefferminzbonbon aus der Tüte, die er am Kiosk an der Haltestelle gekauft hatte, und schob es sich ratternd über die Zähne, während er den braunen Umschlag auf dem Tisch platzierte. Sein Füller war mit schwarzer Tinte geladen. Mit einer schwungvollen, energischen Handbewegung schrieb er «Herr Cesare» auf den Umschlag, beschwerte ihn mit den Pfefferminzbonbons, damit er nicht weggeweht würde, füllte die Untertasse mit Münzen und verließ das Restaurant.
    Tibo achtete darauf, jeden Morgen um kurz vor neun ins Büro zu kommen, während Agathe sicherstellte, immer um kurz nach zu erscheinen. Diese Abmachung hatten sie nicht offiziell getroffen – es hatte sich einfach so ergeben. Es passte ihnen gut. Es bedeutete weniger quälende Begegnungen auf der Treppe, weniger peinliches Schweigen und verlegene Blicke, die als böse oder sehnsüchtig oder vorwurfsvoll aufgefasst werden könnten. Es war einfacher so, das war alles. Und weil er immer zuerst im Büro war, konnte Tibo dem albernen Ritual nachgehen, auf Agathes Schritte zu lauschen,zur Tür zu stürzen, sich auf den Teppich zu werfen und zu blinzeln.
    Und genau dort lag er, genau das tat er, als Agathe an jenem Morgen zur Arbeit kam. Der gute, arme, liebeskranke Bürgermeister Krovic lag an der üblichen Stelle auf dem Teppich, um Frau Stopaks schöne, pinklackierte Zehennägel zu betrachten, als diese etwas sehr Ungewöhnliches taten und sich ihm zuwandten. Tibo brauchte einige Sekunden, um zu begreifen, was vor sich ging. Er rappelte sich auf. Aber es war zu spät, schon ging die Tür auf und schlug ihm an die Schläfe. Es klang wie

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