Die Liebeslotterie
wollte es noch ein bisschen länger genießen. Sie wollte in die Flamme hauchen, ohne sie auszublasen. Sie marschierte los. Auf dem Rathausplatz ging sie ein bisschen schneller, und sie hielt sich dicht an der Rathausmauernur für den Fall, dass Bürgermeister Krovic einen Blick aus dem Fenster warf und sie beim Krankfeiern ertappte.
Sie bog nach rechts in die Radetzkystraße ab und kam gegenüber vom Palazz Kinema wieder heraus, wo gerade «Die weinende Violine» mit Jacob Maurer lief. «Die weinende Violine» wäre genau das Richtige, um das kleine Elend zu füttern, das an ihr nagte. Aber der Film war gleich zu Ende, und die nächste Vorstellung würde erst in einer halben Stunde beginnen, und so lief Agathe weiter bis ans Ende der Georgenstraße, wo sich das städtische Kunstmuseum befand.
Agathe war keine regelmäßige Besucherin des städtischen Museums, aber sie hatte lange genug für Tibo Krovic gearbeitet und oft genug den Sitzungen der Bücherei- und Kunstausschüsse beigewohnt, um zu wissen, was sie im Museum erwartete – reuige Sünderinnen, die sich von einer nächtlichen Brücke stürzen wollen; traurige Kinder und süße Welpen; alte Frauen, die zum Abschied aus den Fenstern ihres Bauernhäuschens winken – Quadratmeter über Quadratmeter düsterer Leinwände. Es war der perfekte Ort, um auf eine Nachmittagsvorstellung im Palazz Kinema zu warten.
Die uniformierten Türsteher begrüßten sie. Sie hatten ihre Stellung hauptsächlich behalten, weil Umlaut ebenfalls solche Türsteher hatte. Sie lächelten und nickten: «Guten Morgen, Fräulein», und sie tippten sich synchron an die Mütze, der eine in den polierten Messingknöpfen des anderen gespiegelt.
Agathe betrat die kühle, dunkle Eingangshalle des Museums, aber sie schaffte es nicht bis zu den Bildern, die sie eigentlich hatte sehen wollen. Sie hatte die wunderschöne Marmorstatue einer nackten Dame entdeckt, die auf dem Rücken lag und halbherzig einen geflügelten Jüngling abwehrte, derüber ihr schwebte. Agathe blieb stehen und fragte sich, was sie wohl täte, falls sie eines Tages aufwachte und einen Engel über ihrem Bett schweben sah. Agathe schlenderte um die Statue herum, um sie von der Rückseite zu begutachten, und kam zu dem Schluss, dass sie wohl ganz auf Abwehr verzichten würde.
Schuldbewusst sah Agathe sich um und entdeckte den Museumsladen am anderen Ende der Halle, und dann zog etwas ihren Blick magisch an. Tibos Postkarte, klein, weit weg, unverkennbar. Agathe ging hinüber und betrachtete die Karte verblüfft, kaum konnte sie begreifen, dass es so etwas gab. So als habe Tibos Karte, ihre Karte, die Karte, die sie zerrissen hatte, nur ein einziges Mal auf der Welt existiert; und nun war sie auf wundersame Weise wiederauferstanden.
Agathe kramte ein paar Münzen aus ihrer Geldbörse, nahm die Tüte mit der Karte entgegen und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, während sie das Museum verließ.
Am Palazz kramte sie erneut nach Münzen, die sie in die ovale Holzschale der Kinokasse klimpern ließ, und wieder tauschte sie den Sonnenschein gegen Dunkelheit ein und betrat den Kinosaal. Ein Mädchen mit einem rotverhangenen Lämpchen und einem Bauchladen, in dem Süßigkeiten und Zigaretten lagen, führte Agathe den Gang hinunter zu einem Platz in den vorderen Sperrsitzreihen. Agathe nahm Platz und ließ den Blick schweifen. Der Saal war fast leer. Sie hatte eine komplette Sitzreihe für sich. Sie schlüpfte aus ihrem Mantel und machte es sich mit der Handtasche auf den Knien bequem. Die Postkarte schien sich bemerkbar machen zu wollen. Agathe nahm sie heraus, ließ sie aus der Tüte rutschen und hielt sie schief gegen das silberblaue Licht der Wochenschau, um sie zu betrachten. «Noch schöner, noch begehrenswerter …»Das alles war so lange her, und dennoch musste Agathe lächeln. Ihr war warm, sie war müde und mit Kuchen vollgestopft. Sie war tief und fest eingeschlafen, noch bevor der Hauptfilm anfing.
AM NÄCHSTEN MORGEN verzichtete der gute Bürgermeister Krovic auf einen Kaffee im Goldenen Engel. Wie üblich stieg er zwei Haltestellen früher aus, aber auf der Schlossstraße eilte er am Restaurant vorbei, während er sich die zusammengefaltete Morgenpost an den Oberschenkel schlug wie ein Jockey, der sein Pferd zur Eile antreibt. Tibo schämte sich. Er wusste, es wäre ihm unmöglich, am Stehtisch neben dem Eingang zu stehen, Kaffee zu trinken und Zeitung zu lesen, während Cesare ihm verschwörerisch
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