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Die Liebeslotterie

Die Liebeslotterie

Titel: Die Liebeslotterie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Nicoll
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das Rathaus zu betreten und die Treppe hinaufzusteigen.
    Tibo schaute sich um. Sie waren weg. Eine leprös wirkende Taube hinkte auf einem Fuß um den Brunnen, zwei alte Frauen saßen auf einer Bank in der Sonne, um sich eine Tüte Kirschen zu teilen. Abgesehen davon war der Platz menschenleer. Kein Muskelprotz, kein kläffendes Hündchen, nichts. Tibo ging zurück ins Rathaus und folgte Agathe die Treppe hinauf ins Büro.
    Als Tibo eintrat, saß sie bereits am Schreibtisch, blass und elend und mit traurigen Augen. Sie hob den Kopf, sah ihm ins Gesicht und schaute schnell wieder weg.
    Tibo hatte etwas Fröhliches, Vergnügtes sagen wollen. Als er in seiner Küche im Haus am Ende des blaugekachelten Pfads gesessen hatte, hatte er sich ihre Begegnung an diesem Morgen in allen Einzelheiten ausgemalt – wie er lässig auf ihrer Schreibtischkante sitzen würde, wenn sie hereinkäme, wie er sie mit einem frechen, entspannten «Hallo» begrüßen würde. Aber wieder einmal war alles schiefgelaufen. Sie war nicht in der Lage, ihn für länger als einen Moment anzusehen, und wenn sie es doch tat, sah er den Schmerz in ihren Augen.
    «Ist alles in Ordnung?», fragte er.
    «Ja, danke. Alles in Ordnung.» Agathe beugte sich über ihr Klemmbrett.
    «Wirklich?»
    «Ja, wirklich. Danke. Geht mir schon besser.»
    Alles war in Ordnung. Selbst an dem Tag, an dem sie aus dem Goldenen Engel gelaufen war, hatte sie das behauptet. Immer war alles «in Ordnung». Sie war nicht verärgert. Er hatte nichts falsch gemacht. Und dann hatte sie ihn verlassen.
    «Schön», sagte Tibo, «ich bin froh, das zu hören.» Und mit wenigen, langen Schritten war er in seinem Arbeitszimmer und zog die Tür hinter sich zu.
    Er stand immer noch da, rücklings an die Tür gelehnt, und verfluchte sich für seine Ungeschicklichkeit, als er sie plötzlich hörte, da, direkt hinter ihm, er hörte ihre Absätze auf dem Teppichboden und ihre Finger, die über das Holz in seinem Rücken strichen.
    Er hielt den Atem an und hörte sie «Tibo?» sagen. Es war kaum mehr als ein Flüstern. «Tibo, kannst du mich hören?»
    Langsam atmete er aus.
    «Tibo?» Immer noch ein Flüstern. Säße er jetzt am anderen Ende des Zimmers an seinem Schreibtisch, könnte er kein Wort verstehen.
    «Tibo, kann ich bitte mit dir reden?»
    «Aber du redest schon mit mir.» Sanft legte Tibo eine Hand an das Holz der Tür, und er hatte das Gefühl, Agathe fast zu berühren, kaum von ihr getrennt zu sein.
    «Tibo.»
    «Ich höre.»
    «Tibo, bitte. Ich stecke in großen Schwierigkeiten.»
    «Ich werde helfen.»
    «Das hast du gestern schon gesagt.»
    «Gestern war es etwas anderes. Du hattest mir einen Türknauf ins Gesicht gerammt.»
    Agathe schwieg. Wenn Tibo das Ohr an die Tür presste, konnte er Agathes Hände über das Holz gleiten hören.
    «Ich habe dich verletzt.»
    «Ist schon gut.»
    «Nein, ich meinte die andere Sache. Ich habe dich wirklich verletzt.»
    Tibo sagte nichts.
    «Du musst mir helfen.»
    «Ich werde dir helfen. Das hast du immer gewusst.»
    Agathe schwieg wieder.
    «Erzähl es mir», bat er.
    «Hektor.»
    Mehr sagte sie nicht, aber als sie den Namen aussprach, kam er aus tiefstem Herzen und füllte ihren ganzen Mund, und Tibos Hände ballten sich zu Fäusten.
    «Tibo, er steckt in Schwierigkeiten.»
    «Ja.»
    «Bitte. Es war alles ein Fehler. Bitte, Tibo. Er war vor Gericht, Tibo, und   …»
    «Hör bitte auf, mich Tibo zu nennen.»
    Trotzdem sagte sie seinen Namen noch einmal.
    «Erzähl es mir einfach», sagte er.
    «Achtzehnhundert.»
    Tibo schwieg.
    «Achtzehnhundert, oder er muss ins Gefängnis.» Und dann fügte sie ein «Tibo» hinzu.
    «Du warst bereit, dich seinetwegen wie eine Hure zu verkaufen?»
    «Nein, Tibo. Nein. Ich habe es erst gestern erfahren, gestern Abend. Am späten Abend. Ich schwöre es.»
    «Gestern. Nur einmal. Du und ich. Für achtzehnhundert. Du Hure. Komm, wir machen einen Spaziergang, und ich zeige dir Mädchen, die es für zwanzig machen.»
    «Bitte sag das nicht.»
    Tibo schämte sich, und nach einer Weile sagte er: «Was soll ich tun?»
    «Ich dachte   … vielleicht   … Ich dachte, vielleicht kannst dues ihm erlassen. Vielleicht kannst du dem Gericht eine Anweisung geben. Mit irgendwem reden. Vielleicht.»
    «Das hast du gedacht. Du dachtest, ich könnte das Gesetz brechen. Du dachtest, ich könnte meine Verbindungen spielen lassen, ein paar Strippen ziehen, weil alle das so machen. Weil es so läuft. Alle sind Verbrecher. Alle

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