Die Liebeslotterie
während Tibo auf seiner Seite der Tür vor sich hin murmelte, saß Agathe mit brennenden Augen auf der ihren. «Zu Hause ist, wo man dich einlassen muss», sagte sie. Nun klang der Satz plötzlich wie eine Drohung. Sie konnte Hektor nicht aussperren, obwohl ihr jetzt überdeutlich war, dass sie sich nichts sehnlicher wünschte.
Um fünf Uhr saß Agathe immer noch am Schreibtisch.Auch um halb sechs. Als die Kirchturmuhr sechs schlug, hatte sie ihren Mantel angezogen, drückte sich jedoch unschlüssig auf der Schwelle herum, lehnte sich neben die Kaffeemaschine, um nur ja nicht gehen zu müssen. «Zu Hause ist, wo man dich einlassen muss», wiederholte sie. «Dabei ist es nicht einmal mein Zuhause. Es ist seins. Ich kann ihn nicht aussperren. Ich kann ihm den Eintritt nicht verwehren.»
Endlich verließ sie das Büro, und auf dem Heimweg saß sie auf dem Oberdeck der Tram, hatte die Hände in die Taschen gesteckt und den Mantel eng um sich gezogen und überlegte, was sie Hektor sagen oder was sie tun könnte, um ihn von der Geldstrafe abzulenken. Sie konnte so einiges tun, aber danach würde er trotzdem wissen wollen, wo das Geld war, und sie hatte keins, und er würde wütend werden und ihr die Schuld geben. Es war ihre Schuld allein, und er würde wütend auf sie sein.
Die Tram kroch dem Ende der Ampersandallee entgegen. Die Glocke läutete. Der Schaffner schwang sich von der Treppe herunter und brüllte: «Grüne Brücke, nächster Halt Grüne Brücke!» Weiter vorn, auf der rechten Seite, erhellten die Lampen der Drei Kronen die Straße wie Krankenhauslichter, trist und trüb und gelblich. Das Geklimper des verstimmten Klaviers drang heraus, als die Tür sich öffnete und Hektor herausgewankt kam. Langsam rollte die Tram vorbei. Agathe verdrehte sich den Hals, um zu sehen, wie Hektor die Hände schützend um eine Streichholzflamme hielt und sich eine Zigarette anzündete. Ein Tabakkrümel fiel in die Flamme und verglühte, und Hektor warf das Streichholz fort. Neben ihm stand eine Frau, eine dürre Frau mit kurzem Haar und viel zu viel Schminke im Gesicht. Sie warf den Kopf in den Nacken. Agathe sah, wie sie lachend den Mund aufrissund ihre Lippen wie zur Parodie eines Kusses auf Hektors presste. Die Tram rollte unendlich langsam vorbei. Hektor griff in seine Tasche. Er gab ihr etwas. Er gab ihr Geld. Wieder lachte sie. Agathe sah, wie die beiden zu der Steintreppe liefen, die unter die Grüne Brücke führt, unter den Brückenbogen, wo es dunkel und trocken war. Die Tram bog in die Gießereigasse ein.
AGATHE, PLÖTZLICH ALT, müde und steif, stieg aus der Tram und machte sich auf den Weg zum Tunnel, der in die Kanalstraße führt. Die letzte Laterne in der Gießereigasse war kaputt, die erste der Kanalstraße noch weit entfernt, und Agathe fixierte den hellen Lichtpunkt, als sie in den finsteren Tunnel trat. An sonnigen Sommertagen, wenn sie glücklich war – und selbst in der Kanalstraße hatte es solche Tage gegeben –, konnte sie den Tunnel durchqueren und dabei den Anblick des Kanals unter dem Gitter genießen, dessen wellige Oberfläche ein Krokomuster an die gewölbte Tunneldecke warf. Aber heute war es anders, heute war der Weg ein tiefschwarzer Tintenklecks, der sich bis zur fernen Kanalstraße und der fahlen Flamme jener ersten Gaslaterne hinzog. Während sie sich dem Licht näherte, erschreckte sie der Wind mit unvermittelten Böen, die altes Laub und weggeworfene Zeitungen auf der Suche nach einer letzten Ruhestätte vor sich hertrieben und winzige, schwarze Kohlenstaubkörner, flatternden Tierchen gleich, von den vorbeifahrenden Barkassen bliesen. Agathe tat so, als bemerke sie nichts. Und direkt hinter dem Geländer wartete immer der Kanal wie eine düstere, endgültige Einladung. Agathe eilte weiter.
Die Gasleuchte in der Kanalstraße schien die Dunkelheit ringsum nur zu betonen. «Da ist keiner. Da ist keiner», ermahnte Agathe sich selbst und blieb dann doch abrupt stehen, um dem Echo ihrer Absätze auf dem geborstenen Asphaltzu lauschen, das aus dem Tunnel kam. Sie wollte sich vergewissern, dass es stimmte, dass da keiner war, dass niemand ihren Gang nachahmte und stillstand, wenn sie stehen blieb, lauschte, wenn sie lauschte, und aus der Dunkelheit herausstarrte wie sie hinein, der seinen Atem dem ihren anpasste und nur darauf wartete, dass sie weiterging, um ein Lachen zu unterdrücken und ihr weiterhin zu folgen. «Da ist keiner», sagte sie.
Das Echo verfolgte sie bis zum Haus
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