Die Liebeslotterie
ihrer stündlichen Taubenwolke anzustarren. Er zwang sich aufzustehen und verließ, steifbeinig wie eine Vogelscheuche, das Rathaus, lief über den Platz und in den Rathauskeller. Dort saß er bis zur Sperrstunde, baute vor sich auf dem Tisch eine Gläserpyramide und wechselte mit niemandem ein Wort, bis er um Mitternacht vor die Tür gesetzt wurde.
Draußen war es still. Tibo schaute zum Himmel empor. Er sah Orion hinter einem pechschwarzen Wolkenwirbel verschwinden, der sich anscheinend am anderen Ende der Welt zusammengebraut hatte und sich nun wie zerfetzte Seide über die Sterne legte. Die Wolke wurde immer dunkler und dichter. Bald hatte sie sich über den ganzen Himmel verteilt wie Tinte in Wasser. Die Sterne verloschen. Tibo zog den Gürtel seines Mantels fester und ging los, und während er ging, schien ganz Dot im Schlaf zu seufzen und sich die Decke über den Kopf zu ziehen – ganz Dot, abgesehen vom Goldenen Engel. Schwarze Wolken verhüllten den Nachthimmel, sie kamen von einem unsichtbaren Horizont angesegelt, um sich Schicht um Schicht übereinander aufzutürmen, hinter den Häusern,über den Dächern und Schornsteinen, sie verstopften den Himmel, bis nichts mehr zu sehen war als ein einsames, winziges, samtenes «O», das am Firmament stand wie ein überraschender Kuss, vom Mondlicht gerahmt und in langsamer, beständiger Drehung, so als bilde der Goldene Engel das Zentrum der Welt. Und dann, als nichts mehr zu hören war als das Rascheln der Dunkelheit, die sich unter den Fensterbrettern zusammenrollte, und das Geschrei der Katzen, atmete das Gebäude langsam ein. Die Wände schienen kurz abzusacken und sich dem Gehsteig entgegenzuneigen. Die Gardinen hinter den Fensterscheiben fingen zu flattern an, dann wurden sie in den Raum gesogen wie von Zugluft, wobei die eichelförmigen Griffe an den Enden der weißen Kordeln gegen die Scheiben klopften. Die Schindeln auf dem Dach klapperten und pulsierten wie Drachenschuppen, und dann geschah einen Augenblick lang gar nichts. Plötzlich begann ein Flattern wie von goldenen Federn, bunte Lichtfinger kamen aus den vergessenen Fenstern hoch oben an der Seite des Gebäudes, und dazu ertönten Trommelwirbel und Orgelklänge und Musik wie von einer weitentfernten Kapelle. Unten im Restaurant fingen die Kaffeetassen zu tanzen an, und die Teller klapperten sich bis an die Regalkanten, um sich von dort in die Tiefe zu stürzen.
Im Schankraum fiel Mamma Cesares Hochzeitsfoto von der Wand. Im größten Schlafzimmer des Hauses wälzte sich die schöne, dunkelhaarige Maria im Schlaf und murmelte: «Das ist nur der Zug, der durch die Nacht fährt.» Dann zog sie sich das frische, weiße Nachthemd über den Kopf und fügte hinzu: «Liebe mich!» Und während Cesare sich bemühte zu vergessen, dass es in Dot keinen Bahnhof gab, atmete das ganze Haus in einem langen, rauschenden Luftzugwieder aus, der unter jeder Tür, durch jedes Schlüsselloch und jede Fensterritze hindurchpfiff und durch die Schlossstraße heulend auf den Fluss zuwirbelte. Wo immer er vorbeikam, kippten die Mülltonnen um und gossen Blechdosen und Papierschnipsel auf die Straße. Der Luftzug zerrte an den öffentlichen Blumenkübeln, riss die Blätter von den Bäumen, brachte Tore zum Quietschen, Türen zum Klappern und Laternenpfähle zum Nicken, kreischend jagte er über die Brücke und den Ampersand hinunter, bis er die Kanalstraße erreicht hatte, wo er mit Wolfsgeheul in den Tunnel fuhr und an allen Fenstern rüttelte, bis er die Nummer 15 gefunden hatte. In der Straße war es still, abgesehen von dem Weinen einer Frau, die geschrien, gekreischt und schließlich nur noch ängstlich gewimmert hatte.
Der Wind nahm Anlauf und warf sich gegen die Haustür, er zwängte sich ins Schlüsselloch und zog und zerrte, bis er die Tür aus den Angeln gehoben hatte, und einen Augenblick später kam Hektor mit mondfahlem Gesicht herausgelaufen, er mühte sich mit seiner Jacke ab, die sich im Wind blähte wie ein zerrissenes Segel. Er rannte und rannte, bis er die letzte Gaslampe der Kanalstraße hinter sich gelassen hatte und die Dunkelheit ihn verschluckte. Weit hinter ihm, in der Wohnung, wurden tröstliche Worte gesprochen, alles werde gut werden, und nun es sei Zeit fürs Bett, morgen früh werde alles anders und wie neu aussehen. Aber natürlich war niemand in der Wohnung, niemand außer Agathe. Es musste der Wind gewesen sein.
Tibo hatte den Wind nicht bemerkt. Der Wind war direkt hinter ihm
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