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Die Liebeslotterie

Die Liebeslotterie

Titel: Die Liebeslotterie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Nicoll
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Nummer 15, wo sie hastig die Tür aufschloss und hinter sich wieder zuknallte, nur, um in dem winzigen Flur zu stehen und sich in triumphierendem Ton zu sagen: «Hier ist auch niemand!» Aber dann brach ein Seufzen aus ihr heraus, ihre Schultern sackten herunter, und ihr fiel wieder ein, dass sie das Geld nicht aufgetrieben hatte, und dann dachte sie an diese Frau und an Hektor und dass er bald nach Hause kommen würde.
    Agathe ging zum Eckschrank neben der Spüle und holte einen Kleiderbügel heraus, um ihren Mantel aufzuhängen. Dabei fiel ein Gegenstand heraus, in dem sie ihr Notizbüchlein mit den vielen Bildern von dem Haus erkannte, das sie und Tibo gebaut hatten, damals, am mittleren von drei Tischen, im Fenster vom Goldenen Engel.
    Das Büchlein war inzwischen verstaubt, die trockenen Seiten aufgespreizt wie die Blätter einer verblühten Rose. Als sie es in der Hand hielt, konnte Agathe kaum fassen, dass sie es vergessen hatte, dass sie drei lange Jahre in der Kanalstraße verbracht hatte, ohne ein einziges Mal in Gedanken nach Dalmatien zu fahren.
    Sie setzte sich auf den Boden und fing zu blättern an. Gelegentlich hielt sie inne, um Gegenstände zu betrachten, die ihr früher so vertraut gewesen waren, jenes Bett, diese Bronzetür,die dicken Weingläser, so grünmarmoriert wie das Meer, Gegenstände wie aus einem anderen Leben, Gegenstände, die eine fremde Person erträumt und dann wieder vergessen hatte.
    Agathe saß immer noch neben dem kalten Ofen auf dem Boden, als Hektor hereinkam. Er entdeckte sie und stieß eine Art Lachen aus, um ihr zu zeigen, wie lächerlich sie war. Er fragte nach dem Geld, und Agathe vergaß im selben Moment alles, was sie sich an Erklärungen und Ablenkungsmanövern zurechtgelegt hatte. Sie erklärte Hektor unumwunden, dass sie das Geld nicht habe, was aber ohnehin egal sei, weil er genug Geld habe, um Huren zu bezahlen. Und dann geschahen schreckliche Dinge.
     
    Diesen Preis zahle ich dafür, seit zwölfhundert Jahren in Dot zu sein. Ich sehe schreckliche Dinge und kann nichts tun. Ich kann nicht helfen. Ich kann den Ziegelstein nicht abfangen, der aus dem bröckelnden Kamin herausbricht und auf die Straße fällt; ich kann den Kinderwagen nicht bremsen, der bergab auf die Kreuzung zurollt; ich kann die Frau nicht aufhalten, die Rattengift in das Abendessen für ihre Kinder mischt, oder das hübsche Mädchen, das den einsamen, alten Mann küsst, als sei es verliebt. Ich kann zusehen oder wegschauen, was auf dasselbe hinausläuft. Mich tröstet allein, dass nichts für die Ewigkeit ist und in Dot nichts so, wie es scheint. Nichts.
    In meinem goldenen Grab liegt eine Engelsfeder, die ein weitgereister Kreuzritter dort abgelegt hat, eine Engelsfeder, die vom Himmel gefallen und auf seinem Helm gelandet war, als er das Heilige Land befreite. Wenigstens hat er das behauptet. Eigentlich handelt es sich um eine Pfauenfeder, dieer aus dem Kopfschmuck der Gattin eines arabischen Kaufmanns gezupft hatte, bevor er sie vergewaltigte. Seine Version der Geschichte ist viel hübscher. Nichts ist, wie es scheint.
    Sogar mein legendärer Bart, der, lang und matt glänzend, in meinem Grab liegt, ist eine Fälschung. Man hatte ihm einem Kaltblüter abgeschnitten, der vor ich weiß nicht wie vielen Jahren hinter dem Konvent verendet war. Das Pferd war einfach hustend umgefallen, wobei es alle viere in verschiedene Richtungen von sich gestreckt und einen Stapel Holzpfähle fallen gelassen hatte, die den Hügel hinabkullerten. Was konnten diese Nonnen fluchen! Kein ruhmreiches Ende, wenigstens seinem Schwanz wird bis heute gehuldigt. Aber nach so vielen Jahren unter einem konstanten Gebetsregen muss er längst heilig geworden sein, ebenso wie meine Knochen. Nichts ist, was es scheint. Ich nicht, nicht die neue, hübsche Schwägerin im Goldenen Engel und nicht die Frau in der Wohnung in der Kanalstraße, die einsam zu sein scheint, die scheinbar von niemandem geliebt oder beschützt wird, während ihr Schreckliches zustößt. Schauen Sie weg. Sehen Sie nicht hin. Bedecken Sie Ihre Augen, und erinnern Sie sich daran, dass nichts ist, wie es scheint.

 
    ETWA ZU DER ZEIT, als Agathe an der Gießereigasse aus der Tram ausgestiegen war, hatte Tibo sich aus seinem Sessel erhoben. Stunde um Stunde hatte er, die Füße auf dem Tisch, reglos verharrt, aber inzwischen hatte sich das Wimmern seiner Gelenke in ein regelrechtes Schreien verwandelt, und außerdem hatte er es satt, die Kathedralkuppel mit

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