Die Liebeslotterie
das kommende Jahr, welche vor dem versammelten Stadtrat abgehalten wurde.
Tibo schaute nach Agathe, wann immer es möglich war, aber er konnte nie länger als ein paar Minuten bleiben. Bei jedem Besuch hatte sich ihr Zustand verschlechtert, trat das Hündische noch stärker hervor.
Während er die Unterlagen zu den Schulfinanzen studierte, hatte Agathe ihren Kopf auf sein Knie gelegt. Ohne es zu merken, fing er an, sie an den Ohren zu kraulen. Es kam ihm ganz natürlich vor, aber dann – «Nein! Das ist verrückt!» – zog er seine Hand zurück.
Tibo stürzte aus dem Zimmer, schloss sorgfältig ab und trat zum Haushofmeister, der ihn bereits auf dem Treppenabsatz erwartete, alle Uniformknöpfe blankpoliert und das Silberzepter mit meiner Statue in militärischem Winkel an die Schulter gelehnt. «Ich bin bereit, wenn Sie es sind, Herr Bürgermeister», sagte er.
Tibo blieb stehen, holte seine Bürgermeisterkette aus dem Chagrinkästchen, das auf einem Tisch unter dem Bildnis von Anker Skolvigs letztem Gefecht stand, und legte sie sich mit fahrigen Bewegungen an. «Sehe ich gut aus?», fragte er.
«Wie immer, Herr Bürgermeister.»
«Dann gehen Sie voran.»
Die riesige Doppeltür zum Sitzungssaal flog auf, und der Haushofmeister tönte: «Stadträte und Bürger von Dot, bitte erheben Sie sich für unseren verehrten Bürgermeister Tibo Krovic.»
Es klang, als stürme eine ganze Kavallerie los, als sämtliche Stuhlbeine im Saal auf dem Holzparkett zurückgeschoben wurden, aber das Geräusch konnte das einsame Jaulen eines verlassenen Tieres nicht übertönen, das in den Saal drang und unter den Deckenbalken verhallte.
«Schließen Sie die Türen», sagte Bürgermeister Krovic.
NACH DER SITZUNG schloss Tibo sich nicht seinen Kollegen an, die sich zu Kaffee und Keksen im Gesellschaftsraum versammelten. Er verschanzte sich in seinem Büro, bis irgendwann Peter Stavo anklopfte. Tibo rief hinaus: «Ich schließe später ab. Gute Nacht!» Er saß im Dunkeln neben Agathe und warf ihr drohende Blicke zu, damit sie leise wäre. Als die Kirchturmuhr Mitternacht schlug, wusste Tibo, dass die letzte Tram das Depot verließ. Als es eins schlug, wusste er, dass ganz Dot schlief.
«Komm», sagte er. «Wir gehen nach Hause. Ich habe deine Sachen in diesem Bündel.»
«Wie nett von dir», sagte Agathe, «aber ich werde keine Verwendung mehr dafür haben.»
«Still», sagte er.
«Wie ich sehe, hast du das mit dem Kommandoton schnell verstanden.»
Sie nahmen die Hintertreppe und liefen an Peter Stavos Hausmeisterkabine vorbei auf den Rathausplatz. Niemand sah sie hinausgehen. Niemand sah, wie sie in die Schlossstraße einbogen und die neun Haltestellen passierten, die auf dem Weg zu Tibos Haus lagen.
«Wirst du diesen Weg mit mir gehen?», fragte Agathe, «wenn ich ein Hund bin? Wirst du das Tramfahren aufgeben und zu Fuß gehen? Ein Hund braucht Auslauf, besonders ein Dalmatiner wie ich. Wir sind Arbeitstiere – gezüchtet zu demZweck, neben den Rädern der Kutsche herzulaufen und Räuber zu verjagen.»
Mit einem Grunzen stieß Tibo das schleifende Gartentor auf und trat beiseite, um Agathe an sich vorbeizulassen. «Somnambulismus, Somnambulismus», murmelte er. Irgendwo in seinem Kopf gab es einen stillen Winkel, in dem die Hoffnung überlebt hatte, das Ganze könnte sich als entsetzlicher Albtraum erweisen.
Am Ende des blaugekachelten Pfades schloss Tibo die Haustür auf. «Ich zeige dir dein Zimmer», sagte er.
«Ich kann mit dem Küchenboden vorliebnehmen», sagte Agathe und marschierte selbstbewusst durch den Flur.
«Natürlich. Der Küchenboden. Eigentlich hatte ich dir auch das Badezimmer zeigen wollen, aber vermutlich reicht es dir, wenn ich die Tür zum Garten offen lasse?»
«Im Moment würde ich lieber noch das Bad benutzen, wenn es dir nichts ausmacht, Tibo.»
«Das ist in Ordnung, Agathe. Folge einfach deinem Geruchssinn. Gute Nacht.»
Und Tibo legte sich schlafen, zu wütend, um zu weinen, und zu erschöpft, um zu träumen.
Fünf kurze Stunden später wachte er auf, weil Agathe, die Morgenpost zwischen den Zähnen, auf seinem Bett saß. Tibo entriss ihr die Zeitung.
«Steckte in der Briefklappe», erklärte sie.
«Danke, dass du sie nicht zerfetzt hast.»
«Manche tun das, manche nicht. Ich glaube, ich gehöre zu letzterer Sorte.»
Tibo bemerkte, dass Agathe dasselbe schwarz-weiße Pünktchenkleid trug wie an dem Tag, als ihre Brotdose in den Brunnen gefallen war. Ihrem Tag. Aber heute war
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