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Die Liebeslotterie

Die Liebeslotterie

Titel: Die Liebeslotterie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Nicoll
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habe alles versucht. Ich habe wirklich alles versucht. Ich habe immer versucht, das Beste für Dot zu tun, und wohin hat es mich gebracht? Und wenn du mir nicht helfen willst, dann hilf wenigstens ihr. Walpurnia, zeige mir, was ich tun soll!»
    Mehr sagte er nicht. Mehr wusste er nicht zu sagen. Wenn ein Mann gebrochen und am Ende ist, hat er nicht mehr viele Worte, und die wenigen, die er noch hatte, widmete er Agathe. Und so wenige es auch waren, es waren genug.
    Was nun passierte, ist schwerlich zu beschreiben. Ein «Reißen» – das wäre vielleicht der passende Begriff. Irgendetwas wurde zerrissen oder entfernt oder beiseitegeschoben, und ich trat heraus. Welch überwältigende Offenbarung! Als ich von jenem Schild herunterkam, strahlte ich gleißend hell. Mein Gewand leuchtete, meine Haut glühte, meine Augen blitzten, mein langes, blondes Haar umwehte mich wie eine nach Orchideen duftende Brise, die direkt vom Himmel kommt. Ich war hinreißend. Tibo Krovic sah natürlich nicht viel mehr als eine warzige, alte Nonne mit langem, schwarzem Bart, aber als er die Hände sinken ließ, die Augen öffnete und begriff, dass sein gesamtes Arbeitszimmer in hellem Glanz funkelte, verfehlte das seine Wirkung nicht. Der arme Tibo. Ein kleines bisschen himmlisches Lob, ein Hinweis darauf, dass es jemanden gab, dem seine Mühen nicht verborgen geblieben waren – mehr brauchte es nicht, um ihn glücklich zu machen. Und es machte auch gar nichts, dass meine Worte aus einem wilden, stacheligen Bart herauskamen, als ich zu ihm sprach. Ich sagte: «Guter Tibo Krovic, du musst Folgendes tun: Liebe! Liebe. Liebe. Und wichtiger noch, lass dich lieben, sei bereit, das Geschenk der Liebe anzunehmen.»
    Und dann, einfach, weil es sich gehört, eine solche Rede mit etwas Gnomischem zu beenden, sagte ich: «Du wirst mehr geliebt, als dir bewusst ist, Tibo Krovic, und du hast einen Freund, der dir helfen wird, wenn die Hunde dich hetzen. Gehe zu ihm.» Die letzten Worte wiederholte ich noch ein paar Mal, während die letzten Sternenstaubflitter in den Teppich sanken, die dünnen Vorhänge sich beruhigten und ich wieder an meinen Platz auf dem Wappen zurückkehrte. «Gehe zu ihm. Gehe zu ihm.» Mag sein, dass ich am Ende ein wenig übertrieben habe.
    Aber als es im Zimmer wieder still war und Tibos Atmung sich beruhigt hatte, als er sich aufrappelte und mit beiden Händen über das Wappen fuhr, um sich zu vergewissern, dass es wirklich aus Holz und Farbe bestand, war er glücklich. Er wusste, was zu tun war.
    «Ich bin der Bürgermeister von Dot», sagte er und trat an Agathes Schreibtisch, um einen Briefbogen mit Stadtwappen herauszusuchen. Mit seinem Füller kritzelte er ein paar knappe Sätze aufs Papier, und dann rannte er aus dem Rathaus. In der Ampersandallee winkte er ein Taxi heran, und sieben Minuten später – es dauerte so lange, weil ganze Wagenladungen von Zeitungen vor der Redaktion der Morgenpost die Straße blockierten – hatte er das Amtsgericht erreicht. Tibo lief nickend an den altbekannten Gesichtern vorbei, und vor dem Gerichtssaal mit der Nummer 1 faltete er seinen Zettel zusammen, reichte ihn dem Mann in der blauen Uniform, der die Tür bewachte, und sagte: «Könnten Sie das bitte dem Anwalt Guillaume bringen?»
    «Sicher, Herr Bürgermeister. Schön, Sie hier zu sehen.»
    «Vielen Dank. Ich werde warten.»
    Die Tür zum Gerichtssaal schloss sich vor Tibos Nase. Erstand mit in den Taschen vergrabenen Händen da und pfiff «The Boy I Love», bis die Tür sich nur wenige Augenblicke später wieder öffnete.
    «Bitte sehr, der Herr», sagte der Gerichtsdiener und reichte Tibo den Zettel zurück.
    Tibo klappte ihn auf. Unter seinen gekritzelten Sätzen stand etwas, ebenso knapp und in noch größerer, ausladenderer Handschrift geschrieben. Tibo las: «Mein lieber Krovic, hoffentlich kann ich Ihnen behilflich sein. Besuchen Sie mich heute Abend jederzeit nach neun Uhr zu Hause in der Loyolastraße 43.» Und dann: «Sie sind hoffentlich nicht gegen Schuppentiere allergisch. YG.»

 
    DIE SOMMERLICHE Abenddämmerung legte sich über die Loyolastraße, und dicke, kleine Fledermäuse flatterten zwischen den flackernden Straßenlaternen umher, als Tibo zur Verabredung erschien. Er kam aus dem Torbogen, der den Hintereingang zum Kopernikuspark darstellte, und betrat eine Welt voll mit mannshohen, schattigen Lorbeerbüschen und eisernen Torgittern zwischen moosigen Steinsäulen. Bunte, hellerleuchtete Glasfenster, die

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