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Die Liebeslotterie

Die Liebeslotterie

Titel: Die Liebeslotterie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Nicoll
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Er würde sich darin aufhalten, und Tibo würde hineingehen und ihn umbringen.
    Er klopfte an. Er klopfte ein zweites Mal. Er schob die Tür ganz auf. Er trat ein.
    Vom schmalen Flur gingen zwei Türen ab. Tibo öffnete die erste und sah ein Badezimmer mit Fenster an der Rückwand. Er öffnete die zweite und stand in dem Zimmer, in dem Agathe während all der Zeit gelebt und geschlafen hatte, sah die Gardine am Boden und dachte: Sicher hat sie die selbst genäht, er sah den umgekippten Stuhl, das ungemachte Bett. Er wandte sich ab. Er konnte den Anblick nicht ertragen.
    Nur von Hektor war keine Spur zu sehen. Er wird nicht wiederkommen, dachte Tibo, und sie auch nicht.
    Er sah sich nach Agathes Kleidern um, aber abgesehen von dem Mantel hinter der Tür verriet nichts, dass hier eine Frau lebte. Tibo öffnete den Eckschrank und entdeckte akkurat aufgehängt ihre Kleider, ihre sieben, soldatisch aufgereihten Paar Schuhe und ihre Unterwäsche, die heiter und gelassen im obersten Regal lag.
    Tibo legte sich die Kleider über den Arm und fing an, mit der freien Hand die Unterwäsche daraufzuladen. Er würde einen Koffer brauchen. Er sah sich um. Das Bett. Falls es hier einen Koffer gab, würde er unter dem Bett liegen. Er legte Agathes Kleider auf den zerwühlten Laken ab und ging auf die Knie, um die verstaubte Dunkelheit unter dem Bett abzutasten.So fand er die Bilder   – Bilder einer stehenden, sitzenden, liegenden, meistens liegenden Agathe, auf dem Bett zur Schau gestellt wie eine aufgeschnittene Frucht, auf dem Bett, auf diesem Bett.
    Tibo betrachtete jedes einzelne Bild, und er hasste sich selbst für den Genuss, den der Anblick ihm bereitete, er ekelte sich vor seinen Gefühlen, und er war von Eifersucht zerrissen. Hektor hatte diese wunderschönen Bilder gemalt, und sie hatte ihm dabei geholfen. Tibo hatte längere Zeit auf dem Bett gesessen, als er das erste Bild zerstörte. Er hielt es mit beiden Händen fest und rammte es auf die Kugel, die oben auf dem Messingbettpfosten saß, bis die Farbe knackte und die Leinwand sich bog und beulte, ohne jedoch zu reißen. Daraufhin schlug Tibo den Rahmen seitlich gegen den Pfosten, sodass er barst und das Bild in sich zusammenfiel. Das reichte. Tibo begutachtete sein Werk. Er betrachtete die restlichen Gemälde, die auf einem Stapel auf der Matratze lagen, und er bedeckte sie mit einem Laken. Dann holte er die heruntergefallene Gardine, breitete sie auf dem Tisch aus, legte Agathes Kleider hinein und band alles zu einem Sack zusammen.
    Als Tibo die Wohnung verließ, schloss er die Tür hinter sich wie den Eingang zu einer Gruft.
    In der Kanalstraße beachtete niemand den Fremden mit dem großen Bündel. Die Kanalstraße ist ein Ort, an dem des Öfteren seltsame Bündel auftauchen, ohne Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, ein Ort, an dem es als unhöflich gilt, sich über Gebühr für die Bündel seiner Nachbarn zu interessieren.
    Tibo musste bis zur Grünen Brücke laufen, bevor er eine Tram entdeckte. Er stieg zu und schwang sein Bündel in den Gepäckraum unter der Treppe. Durch große Willensanstrengung gelang es ihm, das Bündel während der ganzen Fahrt zuignorieren, und beim Aussteigen ging er geradezu ungezwungen damit um. Als er im Rathaus an Peter Stavos Kabine vorbeikam, schob er das Bündel unterhalb der Glasscheibe vorbei, während er anklopfte und rief: «Verzeihung, es hat ein bisschen länger gedauert, als ich dachte.» Er drehte sich um, hielt sich das Bündel vor den Bauch und stieg die Treppe hinauf.
    «Ich habe deine Sachen mitgebracht», rief Tibo, als er die Tür aufgeschlossen hatte. Aber Agathe war nirgends zu sehen. Tibo brauchte eine Weile, er lief durch das ganze Büro und flüsterte panisch ihren Namen, bis er sie zusammengerollt unter seinem Schreibtisch fand.
    «Kam mir nur folgerichtig vor», erklärte sie.
    Tibo grummelte.
    «Ich war in der Kanalstraße», sagte er.
    Agathe blieb auf dem Boden liegen, legte den Kopf schief, ließ die Zunge seitlich aus dem Mund hängen und hechelte.
    Tibo ignorierte das. «Ich war in der Kanalstraße, und du kannst nicht dorthin zurück. Du kommst mit zu mir.»
    «Das habe ich mir immer gewünscht, Tibo», sagte sie.
    Aber bevor er sie mit nach Hause nehmen konnte, gab es noch viel zu tun – eine wichtige Sitzung des Planungsausschusses, die fast den ganzen Nachmittag dauerte und ein großes Kanalisationsvorhaben zum Thema hatte, und eine Sitzung des Finanzausschusses zur Festlegung der Schulbudgets für

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