Die Liebeslotterie
Kommando», sagte er. «Enttäusch mich nicht.» Und dann, während der Zeit, die Beppo benötigte, um zehn Zentimeter in die Höhe zu wachsen und eine Leichengräbermiene aufzusetzen, führte Cesare Tibo in sein Wohnzimmer.
Cesare sagte: «Es scheint ein Missverständnis vorzuliegen. Ich bediene, aber das macht mich nicht zu Ihrem Diener.»
Tibo, der wusste, dass er sich furchtbar benommen hatte,und der sich zu sehr schämte, um eine Entschuldigung formulieren zu können, knirschte bloß mit den Zähnen und sagte: «Es soll aufhören.»
Wieder zog Cesare die Augenbrauen hoch. Ein Kenner der menschlichen Mimik hätte das interpretiert als: «Da bin ich neulich also mit Kaffee und Kuchen zu Ihnen ins Rathaus gekommen, um als Freund mit Ihnen zu reden, um Ihnen als Mann und Bürgermeister meinen Respekt zu erweisen. Dafür demütigen Sie mich heute vor den Augen meiner Angestellten und meiner Gäste, und Sie weigern sich zudem, jetzt um Verzeihung zu bitten. Wer sind Sie, kleiner Mann? Wissen Sie nicht, dass ich Ihnen dafür in der alten Heimat die Kehle durchschneiden könnte?» Aber Cesare sagte nur: «Was soll aufhören?»
«Der Fluch. Der Fluch, mit dem Sie eine gewisse Person belegt haben. Nehmen Sie ihn zurück.»
«Ich habe Sie niemals um einen Fluch bitten hören», sagte Cesare.
Er zog einen riesigen Schlüsselbund heraus und wählte den kleinsten Schlüssel, ein winziges, vergoldetes Stück Metall, schloss den mit Marketerien verzierten Sekretär am Fenster auf und klappte den Deckel hoch.
«Ich glaube, das gehört Ihnen?» Damit reichte er Tibo den braunen Umschlag. «Bitte sehr. Unverändert. Ich habe nicht hineingesehen. Und Sie haben mich um keinen Fluch gebeten.»
Tibo schaute in den Umschlag. Die braunen Haare lagen immer noch darin, frisch aus der Bürste gezupft und mit Küssen versehen. Tibo sagte: «Es tut mir sehr leid.»
Cesare antwortete mit einem Zucken der Augenbrauen, das womöglich «Zu spät» bedeutete oder «Nun, dann ist ja alles gut».
Cesare sagte: «Erzählen Sie mir von dem Fluch», so als sei er ein Arzt aus einer langen Abstammungslinie von Ärzten, der sich nach Symptomen erkundigt.
Tibo schilderte ihm alles. «Aber das ist natürlich Unsinn. Sie verwandelt sich nicht in einen Hund.»
«Sie Dummkopf, natürlich tut sie das! Es sieht schlecht aus», murmelte Cesare, «sehr schlecht.»
«Was soll ich machen?»
«Sie könnten den Verursacher ermitteln und ihn bitten, damit aufzuhören. Natürlich wäre denkbar, dass Sie selbst dafür verantwortlich sind.»
«Nein, bin ich nicht!», protestierte Tibo.
«Wie dem auch sei, wahrscheinlich gibt es kein Heilmittel – außer Liebe. Ewige Liebe vielleicht. Die hilft fast immer.»
«Das sehe ich anders», sagte Tibo und verabschiedete sich.
DRAUSSEN AUF DER Schlossstraße winkte Tibo ein Taxi heran. Beim Sprint zum Goldenen Engel hatte er Schweiß, beim Gespräch mit Cesare Blut und Wasser geschwitzt. Während das Taxi sich durch den mittäglichen Stoßverkehr schob, schälte er sich aus seinem Sakko, knöpfte sich das Hemd auf und lockerte seine Krawatte.
«Kanalstraße», sagte der Fahrer. «Weiter kann ich Sie nicht bringen. Mit dem Taxi komme ich nicht durch den Tunnel, und ehrlich gesagt, ist es mir nur recht so. Die würden mir die Räder klauen, noch bevor ich wenden kann.»
Tibo stieg aus und zahlte.
«Soll ich warten?»
«Nein», sagte Tibo.
«Gott sei Dank.» Das Taxi flüchtete im Rückwärtsgang.
Tibo war nie in der Kanalstraße gewesen. Es war der einzige Luxus des verschmähten Liebhabers, den er sich nicht gegönnt hatte. Nie war er nachts hier herumgeschlichen, nie hatte er an Fenstern gelauscht, nie hatte er sich anhand von Fundstücken aus dem Hausmüll oder dem Anblick von Wäscheleinen Phantasien zusammengesetzt, er hatte nie zu später Stunde an die Tür gehämmert, er hatte keine volltrunkenen Liebeserklärungen abgegeben und niemanden zum Duell gefordert, nie hatte er am anderen Kanalufer gestanden und stundenlang Ausschau gehalten, bis der fallende Schnee seinen Hut in eine dicke, steife Hochzeitstorte verwandelt hatte.Aber vorgestellt hatte er es sich dennoch. Und nun war es wahr geworden – das verdreckte Pflaster, das verrostete Geländer, die kaputten Straßenlaternen und das Haus Nummer 15 mit der offenen Tür. Sicher war Hektor zu Hause. Der Mann, der Agathe geschlagen hatte. Der Mann, der ihm Agathe weggenommen hatte, um sie drei Jahre lang jede Nacht zu schlagen. Da war sein Haus.
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