Die Liebeslotterie
Rathausplatz, Peter erklomm die Treppe zu seiner Wohnung über Dots zweitbestem Fleischer, und die Kinder, Simon und Kate, rannten lachend den Berg hinunter und ihrer Zukunft entgegen, wie immer die auch aussehen mochte.
Agathe schaute ihnen nach und wusste nicht, was genau sie fühlte. Neid? Mitleid? Wehmut? Wut? Seufzend wandte sie sich ab.
Ein kalter Wind blies durch die Schlossstraße und verweilte bei Tibo, der auf seine Tram wartete; der Luftzug trug das Gelächter und das Geklapper der Absätze von Kate herüber, die von Simon über das Kopfsteinpflaster gejagt wurde. Ein trauriges Kind, so hatte er sie genannt. Dabei waren die beiden einfache, dumme, hässliche Kinder, die blindlings in ein einfaches, dummes, verkorkstes Leben hineinstolperten, und wenigstens waren sie nicht allein. Traurig?, dachte Tibo. Verdammt, Krovic, seit wann sitzt du auf dem hohen Ross?
Die Tram kam. Tibo hatte den Berufsverkehr mit den Büroangestellten und den abgehetzten Verkäuferinnen verpasst. Tibo fand problemlos einen Sitzplatz zwischen den wenigenanderen Passagieren, darunter auch solche, die ihm nicht unähnlich waren – wohlhabende, gutgekleidete Männer mittleren Alters, die sich ein bisschen zu lange in der Altstadtkneipe aufgehalten hatten, weil zu Hause niemand auf sie wartete.
Nach sieben Haltestellen stieg der gute Bürgermeister Krovic am Kiosk an der Ecke aus und bog in seine Straße ein. Er lief unter den schweren Ästen der Kirschbäume, bis er sein Gartentor erreichte, das sich hilfesuchend an der Gartenmauer abstützte wie ein Wochenendtrinker an einem Laternenpfahl. Darum muss ich mich wirklich kümmern, dachte Tibo. Wirklich. Er duckte sich gerade unter der Birke hinweg, als er am Rand der Messingglocke einen Schmetterling entdeckte, der mit seinen rosshaardünnen Beinchen aufzustampfen schien. Als Tibo am Ende des Gartenpfads angekommen war und seine Taschen nach dem großen, schwarzen Haustürschlüssel absuchte, meinte er tatsächlich, ein schwaches Läuten zu hören.
Nur Minuten zuvor hatte Peter Stavo in der Innenstadt seine Wohnung über Dots zweitbestem Fleischer betreten, in deren Küche Schmorbraten- und Kartoffelkloßdämpfe waberten. Peter küsste seine dicke Frau, sie seit nunmehr dreißig Jahren an diesem Herd stand. Sie verscheuchte ihn mit missbilligendem Schnalzen und einem Geschirrhandtuch, und sie schimpfte: «Schön, dass du doch noch nach Hause kommst! Und getrunken hast du auch.» Aber sobald er ihr den Rücken zugekehrt und es sich mit der Zeitung bequem gemacht hatte, schaute sie lächelnd in seine Richtung.
Auf der anderen Seite von Dot ließ die Tram die Grüne Brücke hinter sich, und Agathe riss sich zusammen, richtete sich auf und bog an der Ecke stolz und kerzengerade und dennoch kurvig wie eine Sanduhr in die Aleksanderstraße ein.Sie lief an Oktars Delikatessenladen vorbei und die Treppe zu ihrer Wohnung hinauf, wo Hektor über einen Mülleimer gebeugt im Treppenhaus stand und den verkohlten Inhalt aus einer Bratpfanne kratzte.
«Oh», sagte er. «Entschuldige. Ich und Stopak … Du hast dich verspätet, da wollten wir uns selbst ein Abendessen kochen.»
Qualm zog durchs Treppenhaus. In der Wohnung war er noch dichter. «Habt ihr die Feuerwehr gerufen?», fragte Agathe kalt.
«Ach, nun hab dich nicht so», maulte Hektor. «Es tut mir leid, Agathe. Ehrlich.»
«Wo ist Stopak?»
«Drinnen. Er macht ein Nickerchen.» Hektor kicherte albern. «Ein Nickerchen. Das ist alles. War ein langer Tag heute.»
«Heute habt ihr den ganzen Tag das Gasthaus zu den Drei Kronen renoviert, nicht wahr?»
Aber Hektor fiel nichts anderes zu sagen ein als: «Ach, nun hab dich nicht so. Es tut mir leid, Agathe. Ehrlich.»
Agathe sah ihn an, die Zigarette, die unter seinem ungepflegten Schnurrbart steckte, das stumpfe Messer in seiner einen, die verkohlte Pfanne mit den silbernen Schürfwunden in der anderen Hand, und beinahe musste sie lachen. Das also war aus ihrem Leben geworden.
«Schmeiß sie weg», sagte sie. «Wirf sie einfach in den Mülleimer. Sie ist kaputt. Das lohnt die Mühe nicht. Ich kann sie nicht mehr gebrauchen.»
Wieder wollte Hektor «Entschuldige, Agathe» sagen, dann überlegte er es sich anders. Er ließ die Pfanne fallen und klappte den Mülleimerdeckel zu.
«Ich werde dir ein belegtes Brot machen», sagte Agathe, und in der Küche schnitt sie Brot und Schinken und drehte mit der kalten Wut einer Harpye die Schraubdeckel von den Gläsern mit Eingelegtem ab.
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