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Die Liebeslotterie

Die Liebeslotterie

Titel: Die Liebeslotterie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Nicoll
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Brotdose hatte sie sorgsam hinter ihren Beinen verstaut.
    Der gute Bürgermeister Krovic beobachtete sie, ihr blaues Kleid, die Brotdose aus blauem Emaille, den blauen, weiten Himmels über Dot, der sich im glitzernden Brunnenwasser spiegelte. Und alles Blau wurde überstrahlt vom leuchtenden Kornblumenblau ihrer Augen, das Tibo selbst aus der Distanz zu erkennen meinte. Und ganz plötzlich hörte er sich sagen: «Coelinblau.» So war Tibo. Manchmal passierte ihm das. Aus keinem erkennbaren Grund schossen ihm wohlklingende Wörter durch den Kopf. «Schirokko» war eines davon, «Karyatide» ein anderes. Coelinblau, Schirokko, Karyatide. An anderen Tagen wiederum konnte er sich kaum die einfachsten Dinge merken. «Wie nennt man eine Säule in Frauengestalt?», fragte er dann, weil sich «Karyatide» partout nicht einstellen wollte, das Wort schwebte außerhalb seiner Reichweite, bis er sich fragen musste: «Werde ich alt? Verliere ich den Verstand?»
    In der letzten Zeit hatte Tibo immer öfter dicke, stoppelige Borsten entdeckt, die aus seinen Augenbrauen sprossen. Tibo war kein besonders eitler Mann, dennoch musste er zugeben, dass er diese Borsten kaum noch unter Kontrolle hatte. Und neulich abends hatte er nach einem kläglich erfolglosen Versuch, die wolfsartig aus seinen Ohren herauswuchernden Haare zu rasieren, gefürchtet zu verbluten. «Alt. Ich werde alt», seufzte er.
    Aber in anderen Momenten, in jenen Momenten, da er Agathe Stopak beobachten konnte, so lange er wollte, sich an ihr sattsehen konnte, dachte Tibo nicht ans Älterwerden.
    Ein Windstoß kam aus Dash herüber und schlug Tibo die Stadtflagge um die Ohren. Tibo schnappte den Stoff mit einer Hand und küsste ihn. Sein Blick ruhte immer noch auf Agathe, als er die Flagge losließ.

 
    KURZ DARAUF fingen die Glocken der Kathedrale wieder zu läuten an. Die Büroangestellten und Verkäuferinnen und Agathe machten sich auf den Rückweg. Als sie im Büro angekommen war, saß Bürgermeister Krovic schon an seinem Schreibtisch, gerade so, als wäre er nie weggewesen. Die Zeitung mit dem halbfertigen Kreuzworträtsel, die leere Kaffeetasse und die Kekskrümel sprachen eine deutliche Sprache.
    «Bürgermeister Krovic, Sie sollten mehr auf Ihre Ernährung achten», sagte Agathe, als sie die Krümel in ihre hohle Hand fegte.
    «Heute Abend werde ich etwas Richtiges essen.»
    «Aber nicht vergessen! Möchten Sie jetzt die Briefe schreiben?»
    Agathe ging zu ihrem Schreibtisch, holte ihren Stenoblock, kam zurück und setzte sich in den grünen Sessel vor Tibos Schreibtisch, um das Diktat der Briefe an den Stadtingenieur und den Museumsdirektor aufzunehmen.
    «Was meinen Sie – brauchen wir Angestellte, die den Museumsbesuchern die Tür öffnen?», fragte Tibo.
    «Ist das ihre einzige Aufgabe?»
    «Ich glaube, ja.»
    «Dann bin ich mir nicht sicher», sagte Agathe. «Wie viel bezahlen wir ihnen?»
    «Das weiß ich nicht. Aus diesem Grund möchte ich mit dem Direktor sprechen.»
    «Nun ja», sagte Agathe zögerlich, «ich möchte nicht, dass irgendjemand seine Stellung verliert, andererseits, als Steuerzahlerin   …»
    «Ja, genau, das habe ich auch gedacht.»
    «Eine Information noch», sagte Agathe, «dann kann ich Ihre Frage beantworten. Diese Türöffner – hat das Museum in Umlaut auch welche?»
    «Eine gute Frage, die die Sache wie immer im Kern trifft», sagte Tibo. «Ich werde den Direktor danach fragen.»
    Der Nachmittag verging langsam und begleitet vom Ticken der Uhr, dem Rattern der Schreibmaschine und dem Klappern der Kaffeetassen. Das Abendblatt erschien, und erfreut stellte Tibo fest, dass der Brand in Arnolfinis Lakritzfabrik ihn von der Titelseite verdrängt hatte. Keine Verletzten, die Produktion würde am nächsten Tag wieder angefahren. Die Morgenzeitung lag immer noch aufgeschlagen auf dem Schreibtisch. Eine unausgefüllte Zeile im Kreuzworträtsel plärrte ihren leeren Triumph in den Raum.
    «Meine Großmutter hat immer gesagt, morgens dürfe man nicht aus dem Fenster schauen», sagte Agathe.
    «Damit man nachmittags noch etwas zu tun hat. Ja, Frau Stopak, vielen Dank. Diesen Witz habe ich immer schon gemocht.»
    «Tja, nun haben Sie in der Tat etwas vor. Es ist schon fast fünf. Die Hochzeit, Sie erinnern sich?»
    «Ja, ich erinnere mich. Das Mädchen aus dem Fährbüro. Wie hieß sie gleich?»
    «Kate.»
    Während Tibo damit beschäftigt war, seinen Mantel überzuziehen und sich die Krawatte zu richten, nahm Agathe die Zeitung vom

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